Am Anfang war das Meer

Buch

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Aus dem Spanischen von Richard Gross und Peter Schultze-Kraft

Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

CHF 22.00, EUR 22.00

ISBN: 978-3-85990-095-1


6 Rezensionen

Dies ist die Geschichte von zwei Aussteigern aus der bürgerlichen Gesellschaft Medellins in den Jahren 1976/77. Die Protagonisten, J. und seine Freundin Elena, brechen aus dem oberflächlichen, nur auf Konsum und Vergnügen ausgerichteten Leben der Millionenstadt aus und wollen auf einer entlegenen Finca an der karibischen Küste Kolumbiens neu anfangen.

Der Roman schildert ihre Ankunft in einer für sie fremden Welt, ihre Begegnung mit der Kultur der Schwarzen, ihre Anstrengungen, sich in dem heruntergekommenen Landhaus einzurichten und die Finca zu einem einträglichen Unternehmen zu machen. Der Autor zeigt durch minutiöse Schilderung einiger wesentlicher Begebenheiten, wie dieser Traum von einem neuen, einfachen Leben auf dem Land scheitert. Es ist ein Scheitern auf der ganzen Linie, das allmähliche Zerbrechen aller Hoffnungen, Visionen und Pläne: das Scheitern des wirtschaftlichen Projekts, von der Finca leben zu können; das Scheitern von J.s und Elenas Versuch, sich in der fremden tropischen Welt zu assimilieren; das Scheitern von J.s und Elenas Beziehung: Elena verlässt die Finca und kehrt nach Medellin zurück; und schliesslich J.s Scheitern als physische Existenz: Das Buch endet mit seinem Tod.

Man könnte sagen, J.s und Elenas Schicksal entwickelt sich mit der Unausweichlichkeit einer griechischen Tragödie. Dennoch erzählt der Autor keine traurige oder deprimierende, sondern eine absolut stimmige und konsequente, einleuchtende, zutiefst menschliche, ja sogar tröstliche Geschichte. Tomas Gonzalez‘ Leitmotiv in all seinen Romanen ist die beständige Wiederkehr des Lebens. In Horacios Geschichte hat er dies an den sich unablässig reproduzierenden Kühen deutlich gemacht; in „Am Anfang war das Meer“ sind es die sich immer erneuernden Palmen am Strand. Gonzalez besitzt die Kunst, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen, und er zeigt, dass er zum Leben gehört, dass der Mensch Teil der Natur ist, aus der Natur kommt und nach seinem Tod wieder in die Natur eingeht.

1984, kurz nach dem Erscheinen des Romans, urteilte der bedeutende Historiker und Kritiker Jorge Orlando Melo: „Ohne dass direkte Einflüsse oder Vorbilder zu sehen sind, atmet dieser Roman die Hoffnungslosigkeit der klassischen Werke Onettis, geht der Autor mit dem psychologischen Feingefühl zu Werke, das wir von Updike kennen, und finden wir diese Verquickung von Poesie und Untergang, die fÜr viele Erzählungen Malcolm Lowrys charakteristisch ist – und dabei steht Tomas Gonzalez den Meistern in nichts nach.“

Herausgegeben mit Unterstützung von Litprom, Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika

Rezensionen

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Bei dieser Hitze hilft nur der Rum

Frankfurter Allgemeine Zeitung / 15.7.06

Sisyphus in der Karibik: In seinem Roman "Am Anfang war das Meer" zeigt Tomás González das unbekannte Kolumbien

Gibt es eine lateinamerikanische Literatur von Rang nach Gabriel García Márquez? Ja, es gibt sie, und sie ist verbunden mit den Namen zweier Autoren, die, aus weit voneinander entfernten Ländern stammend, nicht viel miteinander gemein haben - außer der spanischen Sprache und der gewalttätigen Geschichte des iberoamerikanischen Kontinents. Gemeint ist einmal der Chilene Roberto Bolaño, der für sein fulminantes Debüt "Die wilden Detektive" den Premio Rómulo Gallegos erhielt und im Jahr 2003 mit nur fünfzig Jahren in Barcelona starb. Zum anderen sein Generationsgenosse Tomás González, der nach sechzehnjährigem Exil in den Vereinigten Staaten nach Bogotá zurückkehrte und sich mit einer Romantrilogie über seine Kindheit und Jugend an vorderster Front der kolumbianischen Literatur etablierte.

Die Biographien beider Autoren, ihre Schreibweisen und Temperamente könnten kaum unterschiedlicher sein: Roberto Bolaños Kronzeuge hieß Jorge Luis Borges, und die Helden seiner im Literaturmilieu angesiedelten Romane waren Schriftsteller, die sich als Schurken oder Betrüger entpuppten - im kulturellen wie auch im kriminellen Sinn. Im Vergleich zu Bolaños ironisch gebrochenen, kunstvoll verrätselten Romanen ist Tomás González auf den ersten Blick ein naiver Realist, der, auf dem Umweg über Faulkner, die vergessen geglaubte und ad acta gelegte Tradition des Indigenismus wiederbelebt. Doch der idyllische Eindruck täuscht, denn hinter der archaisch wirkenden Erzählweise verbirgt sich ein mit allen Wassern der Postmoderne gewaschener Romancier.

"Am Anfang war das Meer" erzählt die Geschichte eines Aussteigers namens J., der zusammen mit seiner Lebensgefährtin Medellín verläßt, um sich auf einer der Küste vorgelagerten Insel an der Grenze zu Panama niederzulassen. Die Handlung spielt Ende der siebziger Jahre, als von der politischen Entwicklung enttäuschte Linke - Stichworte Kuba und Chile - aus den Städten aufs Land zogen, um, wie hundert Jahre zuvor die russischen Narodniki, den Traum vom alternativen Leben nicht mehr kollektiv, sondern individuell zu realisieren. "Selbstverwirklichung" nannte man das, und die Illusion ökonomischer Autarkie gehörte ebenso dazu wie eine erotische Utopie, die den Sexualtrieb - anders als im Lied der Rolling Stones - durch permanente Befriedigung ruhigstellen und befrieden wollte: "Eine feuchte, dunkle Sinnlichkeit bemächtigte sich ihrer Körper. Und während der Regen schwer und monoton aufs Dach trommelte, genossen sie einander bis zur Erschöpfung."

Die beiden Aussteiger scheitern auf der ganzen Linie, nicht nur, weil ihre sexuelle Begierde in der Tropenhitze erschlafft und J., statt nach Elenas Busen, lieber zur Rumflasche greift, um den wachsenden Frust im Alkohol zu ertränken. Seine wirtschaftlichen Aktivitäten haben keinen Erfolg, sie untergraben seine Autorität bei der örtlichen Bevölkerung und vergrößern die drückende Schuldenlast bei der Bank. J.s Versuch, Rinder zu züchten, führt ebenso zum Fiasko wie die Eröffnung eines Dorfladens oder das Abholzen des auf seinem Grundstück wachsenden Waldes, und die Tagelöhner, die er anheuert, wird er nicht mehr los. Am Ende engagiert J., um Ordnung ins Chaos zu bringen, einen aus dem Gefängnis entlassenen Sträfling, dem er keine Fragen über dessen Vergangenheit stellt und der seinen Chef, als dieser ihn fristlos entläßt, mit der Jagdflinte erschießt.

"Chronik eines angekündigten Todes" könnte der Roman heißen, denn das tragische Ende der Geschichte ist den Lesern von Anfang an bekannt. Doch anders als sein Landsmann García Márquez bestätigt Tomás González keine literarischen Klischees, in denen sich Exotik auf Erotik reimt, sondern dekonstruiert den gängigen Lateinamerika-Diskurs, indem er das Vertraute dem fremden Blick aussetzt - nicht umgekehrt. Unter Verzicht auf kulinarische Sinnlichkeit schildert er Kolumbien als unbekannten Kontinent, den seine eigenen Bewohner nicht verstehen. Die Schwarzen an der Karibikküste erscheinen nicht als exotische Objekte, sondern als gesichts- und geschichtslose Opfer einer unbegriffenen Gewalt, die wie ein Orkan über sie hinwegfegt und sie, ohne ihr Zutun, auf einer einsamen Insel deponiert. Man könnte von einer Wiederkehr des Existentialismus sprechen, die derzeit vielerorts zu beobachten ist, und dazu paßt Kafkas Aphorismus vom "scheinbaren Einpfählen der scheinbaren Sache" - wörtlich und nicht bloß im übertragenen Sinn. Es geht um Stacheldraht, den Elena, während J. in Medellín um Bankkredite feilscht, am Strand hochziehen läßt, um beim Sonnenbaden vor lästigen Blicken Einheimischer geschützt zu sein. "Wenn sie nicht da war, zogen sie einfach den Draht auseinander und zwängten sich durch die Lücke. Jede Woche mußte Gilberto den Zaun aufs neue reparieren, eine nie endende Plackerei, die um so paradoxer war, als Gilberto und seine Familie es selbst waren, die den Draht hochbanden oder aus seiner Halterung rissen."

Der Doppel- und Hintersinn des Romans wird hier sichtbar, ebenso wie seine philosophische Botschaft: Albert Camus läßt grüßen - nur mit dem Unterschied, daß man sich Sisyphus in der Karibik nicht als glücklichen Menschen vorzustellen hat.

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Trostlose Tropen

Karl-Markus Gauss / NZZ / 4.7.06

Tomás González' Roman "Am Anfang war das Meer"

Nein, das ist keineswegs jene "tröstliche Geschichte", von der der Klappentext spricht. Was erzählt wird, ist vielmehr düster, deprimierend, schlackenlos von jedem Sentiment befreit, aber auch ganz ohne Hoffnung, der minuziöse Bericht eines umfassenden, eines Scheiterns auf allen Linien. Elena und J., zwei Aussteiger über dreissig, verlassen die pulsierende Grossstadt Medellín, um in den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts an einem "Ende der Welt", in einem namenlosen Dorf an der karibischen Küste Kolumbiens ein neues Leben zu beginnen.

Wir sehen die beiden, wie sie über ein Jahr mit wachsendem Grimm und einem energischen Hang zur Selbstverletzung versuchen, ihren Traum zu verwirklichen, doch schon bald setzt der Erzähler unaufdringliche Zeichen des Untergangs, in den ihr Aufbruch rettungslos führt. Nichts ist, wie sie es sich gedacht und erträumt hatten, und was sie sich denken und erträumen, das ist in dieser zugleich tropischen und rauen Welt gänzlich ohne Belang. Am Ende gelingt es ihnen nicht einmal, eine Spur ihrer Anwesenheit zu hinterlassen; Elena flüchtet zurück in die verächtlich verlassene Zivilisation, und als J. stirbt, wird er das Dorf nur mehr dadurch beschäftigen, dass es seine schnell verwesende, aufgedunsene Leiche möglichst rasch wegzubringen gilt.

Disziplinierter Stilist

"Am Anfang war das Meer" ist der erste von sechs Romanen, die der 1950 geborene Tomás González bisher verfasste, der zweite, der von ihm nach "Horacios Geschichte", der die hiesige Kritik 2005 begeisterte und mit dem er über manche Figur locker verbunden ist, auf Deutsch erscheint. Was immer man mit der kolumbianischen Literatur in Europa zu verbinden pflegt - die barocke Sprachlust und Erfindungsgabe, die fortgesetzte Orgie der Gewalt -, nichts davon ist bei González, dem strengen, disziplinierten Stilisten, zu finden, der sich ganz auf die individuellen Tragödien seiner beiden gebrochenen Helden konzentriert und nicht auf staatliche Repression, politischen Terror, kriminelle Organisationen. - Nüchtern, geradezu lakonisch berichtet er von zwei Kindern der Grossstadt, die als alternde Hippies Landwirte spielen wollen und eine Finca erwerben, die sie in verwahrlostem Zustand vorfinden. Sie in Schuss zu bringen, dafür fehlen ihnen die Kenntnisse, sowohl der Viehzucht und der Schlägerung von Wald als auch der Leute, mit denen sie es zu tun bekommen. Denn diese Menschen, die wie nach uralter Gesetzlosigkeit leben, sich nur tageweise verdingen und es im Übrigen den Tropen überlassen, sich unerbittlich wieder über die Spuren jedes menschlichen Bemühens zu legen, entsprechen weder den vage sozialistischen Illusionen, die sie von ihnen hatten, noch dem libertären Aufbegehren einer Generation, die die Welt mit Marihuana, Sex und Hardrock veredeln zu können glaubte.

Alles, was Elena und J. versuchen, geht schief. Die Finca ist heruntergewirtschaftet, und bis zuletzt bringt es J. in dieser Gegend, in der jeder Geld braucht, nicht zuwege, eine ordentliche Mannschaft von Arbeitern zusammenzustellen. Im Kaufladen, den sie nebenbei zu führen gedenken, treffen die Waren aus der nächsten, mit dem Motorboot erst nach vierstündiger Fahrt zu erreichenden Stadt nie vollzählig ein, und die Kunden bleiben entweder aus, oder sie bleiben die Rechnungen schuldig. Das Herrschaftshaus, kaum gesäubert, fängt schon wieder zu schimmeln an, eine Beute der Kakerlaken. Und dann kommt der Winter! "Zu Beginn des Winters blieben Elena und J., solange der Regen anhielt, im Haus. Eine feuchte, dunkle Sinnlichkeit bemächtigte sich ihrer Körper. Und während der Regen schwer und monoton aufs Dach trommelte, genossen sie einander bis zur Erschöpfung." Aber bald schon ist es eine "verzweifelte Wollust", der sie sich ergeben, eine sexuelle Gier aus Mangel an anderen Betätigungsmöglichkeiten, aus Enttäuschung, zunehmender Entfremdung.

Elena hat sich bald mit den Einheimischen überworfen, denn sie ist aufbrausend. J. sucht Trost beim Schnaps und, als Elena sich ihm entzieht und endlich ihr Paradies, das sich als Ort des Unheils erwies, verlassen hat, bei den verheirateten Frauen der umliegenden Weiler. Kompositorisch exakt in die Mitte der 38 Kapitel gestellt ist ein Brief, in dem ein Bruder J.s nach dessen Tod einer Verwandten Aufklärung über das verhängnisvolle Geschehen zu geben versucht. Aus diesem Brief mit seiner anderen Erzählhaltung erfahren wir, was wir in dem Roman, der sonst von erklärendem Kommentar freigehalten ist, aus atmosphärischen Details, Gesprächsfetzen, Andeutungen erschliessen müssen.

In Würde scheiternd

Ein Bankrotteur nicht nur seiner wirtschaftlichen Pläne, erweitert J. in seinen letzten Wochen die verwilderte Finca um riesige Latifundien, die gleichermassen verfallen und wertlos sind; er, der Rebell, der ein paar Bücher von Brecht, Neruda, Hesse ins entlegene Dorf mitgebracht hat, endet als Grossgrundbesitzer, der über völlig ungenutztes Land verfügt, während er nicht die geringste Vorstellung hat, wie er es anstellen müsste, es je sinnvoll zu nutzen. Der Bruder schreibt in seinem Brief, dass J., dem alles missriet, sich zuletzt nur mehr an seinem "machismo" festgehalten habe, am "lächerlichen Wunsch, dem Bild eines gott- und gesetzlosen Mannes zu entsprechen".

Trotzdem gewinnen wir J., dessen Ende in Schrecken, in Rausch, Grössenwahn, Verzweiflung, Einsamkeit wir schon bald voraussehen, im Laufe der Erzählung immer lieber; obwohl uns zugleich immer mehr von seinen unliebenswürdigen Seiten enthüllt werden. Darin liegt die Kunst des Tomás González, den Einzelnen so ernst zu nehmen, dass er ihm in seinem Scheitern Würde, in seinem Selbstbetrug Grösse gibt und sogar in seinem Sterben auf wundersame Weise so etwas wie Lebenskraft zu entdecken vermag. Tröstlich ist das nicht, wohl aber ergreifend.

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Gärung

slo / P.S.

Aus der kolumbianischen Grossstand ziehen sich J. und Elena, ein junges Paar, auf ein Landstück am Meer zurück. Bereits während der Reise dorthin deutet sich an, dass ihr Weg nicht in die ersehnte Idylle führen wird. Die Ankunft unterstreicht diesen Eindruck, über dem Ort, der lediglich aus einem Weiler und den umliegenden Ländereien besteht, schweben Zerfall, Trägheit und Fäulnis. Seinen Traum von Viehzucht muss J. bald begraben. Allein die Existenzsicherung wird zum täglichen Kampf, wachsende Schuldenberge sind die Folge. Die langen Regenmonate, in denen sich das Paar zum Nichtstun verdammt sieht, Saufgelage und Elenas Aversion gegen die Bewohner des Weilers tragen das ihre zur Zerreissprobe für die Beziehung bei. Obwohl der Autor das drohende Unheil früh ins Spiel bringt, gelingt es ihm, die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu halten. In schlichtem Ton steuert er auf die unausweichliche Tragödie hin, in der sich die unterschwellige Gewalt entladen wird.

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Immer dieselben Palmen

Vincent Frommel / Die Badische Zeitung / 22.7.06

Nicht vom Tod, sondern vom Leben fasziniert: Tomas Gonzalez – ein neuer Ton in der kolumbianischen Literatur

Bis vor kurzem war der kolumbianische Romancier Tomas Gonalez bei uns noch Ge­heimtipp. Selbst in Kolumbien gab es nur eine kleine Fangemeinde ("EI club de Tomas"), die sich einmal im Jahr traf, um ihren scheuen Heiden zu feiern. Dass Gonzalez ein Aussenseiter geblieben ist, hat drei Gründe: Erstens verbrachte er 19 Jahre in den USA, war also "weg vom Fenster"; zweitens ist er ein stiller Mensch ("el escritor del silencio" hat man ihn genannt), der sich vom Literaturbetrieb fernhielt und fast wie ein Eremit in einem Landhaus ausserhalb von Bogota lebt; drittens ist seine Literatur nicht "kommerziell", das heisst, ihn interessie­ren die Themen nicht, die heute als kolumbianische "Markenzeichen" gelten und einem jungen Autor als Vehikel zum Erfolg fast aufgezwungen werden: sozia­les Elend, Aufsteigertum, Drogenhandel, Gewalt.

Für Tomas Gonzalez hat sich mit einem Schlag alles gelindert: Zur Bogotaner Buchmesse im April brachte die Literatur­zeitschrift "Pie de pagina" sein Bild auf der Titelseite und im Innern des Heftes 15 Selten über das Phänomen Gonzalez, das "best gehütete Geheimnis der kolum­bianischen Literatur". Gleichzeitig er­schienen attraktive Neuauflagen all sei­ner bisher veröffentlichten Romane in Bogota, eine Lizenzausgabe der "Teufels­pferdchen in Barcelona" und die deut­sche Übersetzung seines ersten Romans "Am Anfang war das Meer" in Zürich. In diesem Roman erzählt Gonzalez in seiner knappen, bildreichen, aufs Wesentliche ausgerichteten Sprache die abenteuerliche, lebensvolle, traurige und am Ende doch versöhnliche Geschichte eines jungen Paars, das dem schalen Leben der bürgerlichen Gesellschaft in Medellin den Rücken kehrt und auf einer abgelegenen Farm an der karibischen Küste ein neues, einfaches Leben anfangen möchte. Doch J.s und Elenas Versuch, sich in der frem­den tropischen Welt zu assimilieren, ihre Hoffnung, von der Farm leben zu können, ihre Beziehung und schliesslich J.s eigenes Leben - alles scheitert. Das unweigerliche Scheitern ist aber beileibe nicht deprimierend, denn Tomas Gonzalez ist im Unterschied zu vielen seiner Schriftstel­lerkollegen nicht vom Tod fasziniert, son­dern vom Leben. Das drückt er manchmal in einem Nebensatz aus: "Der letzte Pas­sagier, der an Bord kam, war ein uraIter, klappriger Mann, der an Parkinson litt und mit zittrigen Fingern Zigarren rauch­te." Oder etwa - eine SchIüsselsteIIe des Buchs - bei der Beschreibung eines Friedhofs am Meer: "Wie sich die Vegetation über Kreuze und Grabsteine rankte und in die Zementritzen drang, wie sich die Krebse an den Öffnungen der Tunnel zeigten, die sie zwischen den Gräbem ge­graben hatten, und wie die Eidechsen glit­zernd durch das helle Licht huschten, das alles machte auf J. den Eindruck, als habe das Leben am Ende auf eine fröhliche Weise über den Tod gesiegt."

In "Am Anfang war das Meer" gelingt dem Autor dreierlei: den Leser in eine fremde Welt einzuführen und sie ihm schnell vertraut zu machen; eine absolut stimmige, sprachlich reizvolle und bis zum Schluss spannende Geschichte zu erzählen; das Leben ohne Verklärung und ohne Zynismus darzustellen und uns die Einsicht zu vermitteln, dass das Leben ewiger ist als der Tod. "Eine Seuche, die so genannte 'Porroca', raffte Jahre danach die Palmen des ganzen Landstrichs dahin. Dann legten neue Menschen neue Pflanzungen an, sahen zu, wie die Sämlinge aufgingen, und warteten, bis sie so weit waren, dass man sie umpflanzen konnte. Und wieder wuchsen die Palmen in die Höhe und trugen Früchte. Im Grunde genommen waren es immer dieselben Kokospalmen, die sich in der salzigen Brise wiegten."

An der Spitze der kolumbianischen Literatur steht ein Generationenwechsel bevor. Die beiden grand old men, die dieser Literatur Weltgeltung verschafft haben, Alvaro Mutis (geboren 1923) und Gabriel Garcia Marquez (geboren 1927)), haben begonnen, sich ein wenig aus dem Rampenlicht zurückzuziehen, und seit einiger Zeit werden eine Reihe von Namen als mögliche "Thronfolger" kolportiert. Dazu gehören bei uns bereits eingeführte Autoren wie Jorge Franco (Die Scherenfrau), Santiago Gamboa (Verlieren ist eine Frage der Methode), Fernando Vallejo (Der Abgrund) und Laura Restrepo (Der Engel an meiner Seite). Nun ist mit Tomas Gonzalez ein neuer Name hinzugekommen und mit "Am Anfang war das Meer" ein grosser Roman, der in der kongenialen Übersetzung von Peter Schultze-Kraft und Gert Loschütz ungeschmälert geniessbar ist.

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Poesie des Untergangs

Vincent Frommel / Die Märkische / 19.8.06

Tomas Gonzalez bleibt trotz Resignation dem Dasein zugewandt

"Ihr Gepack reiste oben, auf dem Dach des Busses. Elena und J. fuhren ans Meer." Was eingangs des Romans wie der Aufbruch zu einer fröhlichen Ferienreise aussieht, entpuppt sich als eine Fahrt in den Tod. Die Bedrohung klingt schon auf der ersten Seite an: "Nachts stie­gen in menschenleeren Gegenden Gestalten zu, die kein Ge­päck dabei hatten, und stiegen nach zwanzig, dreissig KiIome­tern in einer ebenso menschen­leeren Gegend wieder aus. Sie re­deten nicht; sie trugen ein Busch­messer am Giirtel und einen schmutzigen Hut auf dem Kopf."

Die Reise geht von der kolum­bianischen Millionenstadt Me­dellin an die karibische Küste, wo J. und Elena, ein junges, zivili­sationsmüdes Paar, auf einer ent­legenen Farm ein neues Leben anfangen wollen. Dank der knap­pen, bildreichen, beiwerkfreien Sprache des Autors findet sich der Leser schnell in die fremde tropische Welt hinein. Alles ist heftiger, lauter, heisser, süsser, nasser, auch langsamer und är­mer und brutaler als anderswo.

Aber nicht um Exotik geht es dem Autor, sondem um die minutiöse Beschreibung eines unvermeidlichen Scheiterns. Denn den beiden Aussteigern J. und Elena geht alles schief: Sie vermögen sich im neuen Ambiente, in der Kultur der Schwarzen nicht einzuleben, sie kommen wirtschaftlich nicht auf einen grünen Zweig, und sie leben sich ausei­nander. J. verändert sich: Der Mann, der die Reichen nicht mag, kauft auf Kredit Land dazu, wird zum Latifundienbesitzer; der Mann, der Bäume liebte, be­ginnt auf der Farm im grossen Stil Holz zu schlagen.

Es ist eine traurige, aber keines­wegs deprimierende Geschichte, denn neben dem Tod ist immer das Leben, und neben J.s und Elenas Unvermögen, miteinander auszukommen, ist immer noch ein Rest Liebe. "Eine feuchte, dunkle Sinnlichkeit bemächtigte sich ihrer Körper. Und während der Regen schwer und monoton aufs Dach trommelte, genossen sie einander bis zur Erschöpfung." Wer ihre verzweifelte Wollust nur negativ, als Aus­druck zunehmender Entfrem­dung deutet, wird in den folgen­den Zeilen, als Elena angesichts des düsteren Himmels das Herz schwer wird und sie zu weinen anfängt, eines Besseren belehrt: "Dann überfiel sie ein Gefühl tie­fer Einsamkeit, und sie lief zu­rück ins Schlafzimmer, um an J.s Körper Geborgenheit zu finden."

Ein andermal, als J. und seine Gefährtin sich gezankt hatten und er mit der Schnapsflasche allein am Strand zurückbleibt, sieht er fasziniert, wie Elena sich im Haus auszieht: Das Leiden am Leben und die Lebensfreude liegen bei Gonzalez ganz nah bei­einander.

Hoffnungslos ist J.s und Elenas Geschichte schon, aber es ist eine Hoffnungslosigkeit im Sinne von "Weitermachen ohne Illusionen". Die Grösse dieses Ro­mans liegt darin, dass es dem Au­tor gelingt, Untergang und Poe­sie zu verquicken.