Die Entdeckung des Vaters

Buch

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

256 Seiten

CHF 22.00, EUR 22.00

ISBN: 978-3-85990-079-0


4 Rezensionen

Vater ist tot. Ein Sohn – der Ich-Erzähler – schreibt einen nicht gehaltenen Nachruf, denkt über Leben und Tod nach und gerät in den Sog der Erinnerungen. Vor diesem Hintergrund leuchtet eine ungewöhnliche Geschichte auf: Der Sohn hatte seinen nach dem Tode der Mutter verwahrlosten Vater zu sich genommen und dadurch versucht, sich an ihn anzunähern, mehr über ihn zu erfahren, ihn sich anzueignen.

Anfangs scheint dies möglich zu sein: Die beiden sehr ungleichen Männer – ein Tatmensch von altem Schrot und Korn der Vater, nachdenklich, intellektuell, melancholisch der Sohn – finden einen Modus vivendi im Haushalt und gehen miteinander auf Reisen, real nach Sizilien und erdacht auf die Titanic. Sie tauchen ein in die Familiengeschichte mit Originalen, den Grossvätern, mit erfolgreichen und missratenen Söhnen, mit einer stillen Mutter. Beide lieben das Fabulieren, der Vater ersinnt sich schwadronierend eine skurrile Ausläuferlehre, der Sohn entweicht in Tagträume. Dann aber wirft Vaters Erkrankung, Alzheimer, alle weiteren Pläne über den Haufen. Der Vater entgleitet, verzieht sich in seine Demenz, der Sohn pflegt ihn, sucht ihn, spiegelt sich in ihm, fantasiert ihn um und gerät an seine Grenzen.

Packend geschrieben, liest sich dieses Buch über Nähe und Distanz wie ein Erlebnisbericht. Präzis im Nachzeichnen der Beziehung, sachlich im Beschreiben der Krankheit, farbig, barock und bilderreich, wo es um den Ausdruck der Gefühle geht, zieht es uns in seinen Bann. Eine berührende Geschichte von Vater und Sohn.

Rezensionen

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Rede an der Vernissage

Verena Stettler / Edition 8

Liebe Anwesende

"Madame deux-mille-fautes" nennt mich der Autor. Glauben Sie ihm nicht. Fehler: Das tönt nach missratenem Schulaufsatz, nach strengem Blick darauf, ob er seine Sätzlein auch richtig hingeschrieben hat, ob die Wörter dudenkonform sind, nach Rotstift und Zensur... Das ist natürlich weder dem Werk angemessen, dessen Erscheinen wir heute feiern, noch dem Können des Autors: ein klarer Fall von Koketterie.

Nun zur Wahrheit - oder mindestens zu meiner Sicht: Wenn ich mich mit einem Roman wie dem von Kurt Hasler auseinandersetze, klopfe ich ihn ab, z.B. nach Unstimmigkeiten, nach Wiederholungen, Unklarem, nach Staus im Fluss der Erzählung - alles Sachen, die nicht unter den Begriff Fehler fallen, sondern vielleicht eher als Schlacken oder Trübungen verstanden werden können, als Sedimente aus dem Entstehungsprozess des Textes. Um die zu erkennen, stütze ich mich nun eben genau nicht auf gängige Regeln ab, auf Richtig oder Falsch, sondern versuche in den Text einzutauchen und dessen eigene Gesetzmässigkeit zu erkennen. Kurz und gut: Ich trete in Beziehung dazu. Und genau dazu möchte ich Sie auch einladen.

Jede Lektüre ist eine Beziehungsgeschichte: Da gibt es die grosse Liebe, das Strohfeuer, die enttäuschten Erwartungen, die Gleichgültigkeit nach ein paar Seiten, die Pflicht, die Vernunftheirat (z. B. bei Verlagen), die standesgemässen Verbindungen und die verschämten Seitensprünge, die langen Freundschaften... Jedenfalls immer wieder die Frage: Warum soll ich mich auf genau diesen Text einlassen?

Für Sie kann ich diese Frage nicht beantworten. Ich kann aber erzählen, wie es mir erging. Als ich Kurt Haslers Manuskript zum ersten Mal im schweren Ordner in der Hand hielt - Sie sehen: Wir haben noch einiges gekürzt -, war meine erste, vorsichtige Reaktion: Ein dickes Stück, mal sehen, ob sich das lohnt! Ich blätterte: einige Seiten am Anfang, einige in der Mitte, einige am Schluss - und war fasziniert von der Sprache, dem zum Teil barocken Überschwang, den originellen Bildern, der Treffsicherheit der Beobachtungen, den witzigen Abschweifungen. Nach diesem Abtasten wagte ich dann den Sprung ins erste Kapitel, überliess mich dem Fluss von Kurt Haslers Sprache und wurde gepackt vom Thema. Die Auseinandersetzung mit dem Vater, mit der Kindheit, mit Krankheit und Tod entwickelt einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Die Geschichte geht unter die Haut.

Da sucht einer seinen Vater, nimmt ihn nach dem Tod der Mutter bei sich auf, als sich die Zeichen von Verwahrlosung mehren, versucht mit ihm ein neues gemeinsames Leben, eine neue Nähe, die nichts mit der Verbundenheit und Abhängigkeit der Kindheit zu tun hat, auch nichts mit dem Zusammenhalt der Sippe wie bei uns in vergangenen Zeiten oder heute in anderen Kulturen. Es sollte die Begegnung zweier erwachsener Menschen auf Augenhöhe sein, das hierarchische Verhältnis von früher verlassen werden zu Gunsten einer Auseinandersetzung über das Gemeinsame, das Prägende und auch die Verschiedenheit, das Fremde. Wer kennt das nicht im Verhältnis zu den Eltern, diese Mischung aus Nähe und Distanz? Und wer kann sich nicht die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens vorstellen? Hier scheint es anfänglich zu glücken, die beiden Protagonisten finden eine neue Ebene, eine Begegnung über die Generationen hinweg, dann aber macht die Erkrankung des Vaters an Alzheimer dem Ich-Erzähler einen Strich durch die Rechnung. Das Buch hiess ursprünglich "Vaterleben, Vatersterben".

Fasziniert, erschreckt, aber auch bewegt las ich die Passagen über den zunehmenden Verfall des Vaters, über das Fortschreiten der Krankheit und die damit verbundene Veränderung der Beziehung: Die Hierarchie kehrt sich nun um, der Vater wird unmündig. In dieser Art, so bedrängend, mit so wenig verklärendem Blick, aber auch so anrührend und elegisch liest man das selten. Speziell ist natürlich, dass der Sohn den Vater umsorgt : Klassischerweise ist die Pflege der Eltern ja eher ein Tochterschicksal. Auch in dieser Hinsicht steht das Buch etwas schräg in der Landschaft, irritiert mit eigenem Reiz. Es machte mich neugierig auf das Schicksal, das dahinter steht.

Nun, Sie haben es vorhin gehört: Obwohl sich das Buch wie ein Erlebnisbericht liest, obwohl es sich mit dem ganzen Gewicht authentischer Literatur präsentiert, ist die Geschichte erfunden. Der Autor hat sehr gut über Alzheimer recherchiert und - seine eigene Biografie und Lebenserfahrung im Hintergrund - mit seiner Phantasie eine mögliche Variante der Sohn-Vater-Beziehung ausgelotet. Er schafft damit eine sehr wahrscheinliche Fiktion - wahrscheinlich im Sinn von wahr scheinend.

Nicht dass uns Kurt Hasler an der Nase herumführen möchte: Hinweise darauf, dass der Roman nicht eins zu eins, dokumentarisch zu lesen ist, gibt es zuhauf. Einerseits zweigen vom Hauptstrang der Erzählung zahllose Geschichten ab: Der Sohn verliert sich immer wieder in Tagträumen, erfindet eine Vaterfigur mit verschiedenen Facetten - als Zoodirektor mit störrischem Elefanten, als Metzger einer ergebenen Kuh, als wohlhabender, unternehmerischer Vater eines geisteskranken Sohns -, er führt mit dem Vater auch mal ein erdachtes Gespräch über Gott oder lässt einen plastisch geschilderten Ausflug ins Bergell mit der ironischen Pointe enden: "Ich könnte dir noch lange aus dem Tourismusprospekt aus Hochglanzpapier zitieren." Der Autor macht die Lust am Fabulieren sogar zum eigentlichen Bindeglied der beiden ungleichen Männer, indem er auch dem Vater zuweilen eine Erzählerrolle zuweist: Er führt den Sohn in die Familiengeschichte ein und serviert ihm die eigene Lebensgeschichte angereichert mit einem skurrilen Kabinettstück wie die ausführlich beschriebene Ausläuferlehre, wozu es offenbar eine eigene Schulung mit Diplom und allem Drum und Dran gebraucht habe. An einem langweiligen Nachmittag schliesslich machen sich Vater und Sohn gemeinsam auf zur Fantasiereise auf der Titanic, die alsbald - wie wir alle wissen - mit Mann und Maus und natürlich samt unseren Protagonisten untergeht. Die Beziehungsgeschichte wird also erklärtermassen von einem aufgerollt, der die Wahrheit nicht einfach im Verbürgten sucht, sondern auch die inneren Bilder einbezieht. Von einem, dessen eigentliches Element das Denken und die Sprache ist. Oder, um eines der fünf Mottos, die der Autor dem Text voranstellt, aufzugreifen: "Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen." (Es stammt von Gabriel Garcìa Marquez).

Die Sprache ist denn auch das andere wichtige Ereignis in diesem Roman, das tragende Element und die Strömung, die uns durch den Text zieht. Üppig und bilderreich, manchmal überschäumend von Metaphern und Assoziationen, manchmal nüchtern und lakonisch umkreist sie ihren Gegenstand, schafft sich neues Terrain und erforscht einen weissen Fleck auf der Landkarte des Bewusstseins: den blinden Fleck, den wir beim allzu Nahen, beim allzu Vertrauten haben, das wir genau aus fehlender Distanz nicht wirklich erkennen. Eben zum Beispiel bei unserer Familie, unseren Eltern, beim Vater.

Der Sohn entdeckt den Vater: wie ein Seefahrer einen unbekannten Kontinent, ein Forscher die Quellen des Nils, wie vielleicht ein Goldgräber einen Schatz. Es ist eine Expedition nicht nur auf der Suche nach dem Andern, dem Gegenüber, sondern - wie es in der Natur der Sache liegt - nach den eigenen Wurzeln. Er nähert sich dem Vater wie gesagt in Träumen und Fantasien an, sucht ihn in Kindheitserinnerungen und in der Familiengeschichte, er findet ihn aber auch in der eigenen Biografie: in der Prägung durch den Vater, durch dessen formende und erdrückende Wunschbilder, in der Geschlechtsidentität, in der Abweichung von der Männerrolle, wie sie der Vater fordert und verkörpert, und im Widerstand gegen diese Klischees, in der Suche nach einem eigenen Weg. Es ist wohl kaum möglich über Eltern zu sprechen, ohne zugleich von sich selber zu reden. Aus diesem Grund sind die Passagen, in denen Kurt Hasler den Sohn über sein eigenes Leben nachdenken lässt, ein wichtiger Kontrapunkt. Er erwähnt seine Vorlieben, die so ganz anders sind als die des Vaters - stellt die Welt des Philosophen und Bücherwurms der des Unternehmers und Tatmenschen gegenüber -, er schildert seine Beziehungen zu Frauen, die Liebe und Partnerschaft, das Erkalten und die Trennung, was in dieser Form vom Vater überhaupt nicht gebilligt werden kann - für diesen ist auch die Familie etwas wie ein Kleinbetrieb, der erfolgreich geführt werden sollte -, er setzt sich auseinander mit den Spuren, die der Vater in der Familie hinterlassen hat, in den Biografien der Brüder und schliesslich in der Wahrnehmung der Mutter: In einem fiktiven Tagebuch lässt er diese als Verbündete und ebenfalls als Identifikationsfigur zu Wort kommen.

Ob Vatersuche, ob Auseinandersetzung mit Alzheimer, Vergänglichkeit und Tod, ob Psychogramm einer Familie, ob Identitätsfindung oder Sprachkunstwerk: Der Roman hat reiche Facetten, zu denen ich in dieser kurzen Zeit nichts Abschliessendes äussern kann. Er lädt zum Nachdenken ein, aber auch zum Genuss der Geschichten und der sprachlichen Kaskaden. Am besten Sie lassen sich von Autor und Buch selber überraschen.

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Mehr respektierter als geliebter Vater

Sabine Huser / Schweizerischer Bibliothekenservice

Ein Sohn erinnert sich an seinen toten Vater, an den Familienvater und engagierten Geschäftsmann und vor allem an den alten, kranken Mann, zu dem er endlich eine tiefere Beziehung aubauen konnte. Nach dem Tod der Mutter nimmt der Sohn den schon leicht dementen Vater bei sich auf und pflegt ihn bis zu dessen Tod. Die Annäherung an einen mehr respektierten als geliebten Vater erfolgt im Alltag, in Träumen und Erinnerungen des Sohnes. Es entstehen neue Bilder, Projektionen vom Vater, die der Sohn "leichthändig komponiert" und die eigentlich mehr über ihn als über den Vater aussagen. Die eigene Angst vor dem Tod, die Auseinandersetzung mit dem Alter, der Ehe, Familie und der Erziehung der Kinder gehen mit der Entdeckung des Vaters einher. Sein Tod bringt Leere und Einsamkeit, hinterlässt aber auch das Gefühl einer ewigen Verbundenheit, die in den wichtigen Jahren vor dem Abschied aufgebaut wurde. Der erste Roman von Kurt Hasler ist ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht, der formal und sprachlich nicht der Norm entspricht und daher keine breite Leserschaft ansprechen wird.

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Erkundungen im Grenzgebiet

Beatrice Eichmann-Leutenegger / Der Bund / 16.8.05

Bücher von Söhnen über ihre verstorbenen Väter häufen sich, doch jede Erinnerung gestaltet sich anders und neu: so auch jene von Kurt Hasler.

Nicht die Ähnlichkeit mit dem Toten treibt hier die Niederschrift an. Es ist die Verschiedenheit, welche den Sohn noch immer bewegt. Der eine ist für den anderen ein Exot: fremd der Vater, ein Tatmensch, in seiner Sports- und Karrierebesessenheit, nicht weniger fremd der Sohn mit seiner Sensibilität und Melancholie. So begibt sich dieser zwangsläufig auf ein ungewohntes Terrain, so bald er sich mit den Lebenswünschen und Vorstellungen seines Vaters auseinander setzt.

Die Fremdheit zwischen beiden peinigt umso mehr, da sie doch in biologischer Hinsicht so eng wie nur denkbar aufeinander verwiesen sind. Nur ab und zu stellen sich Gemeinsamkeiten ein, etwa die beiderseitige Fabulierlust. Zu Beginn hätte er eigentlich nur einen kurzen Rückblick auf das Leben des toten Vaters schreiben und diesen anlässlich der Bestattung vorlesen wollen. Aber das kleine Schriftstück begann sich wie ein Organismus zu entwickeln, wuchs hierhin und dorthin und geriet schliesslich zu einem monumentalen Monolog, welchen der Sohn an den Vater richtete.

Kurt Hasler, 1949 in Frauenfeld geboren, hat über mehrere Jahre hinweg und in Unterbrüchen an diesem Text geschrieben und sich dabei in emotionaler wie in literarischer Hinsicht einem aufwändigen Unternehmen gestellt. Der Arbeitsprozess scheint den Charakter von «Die Entdeckung des Vaters» beeinflusst zu haben: Nicht ein Text aus einem einzigen Guss präsentiert sich hier, sondern einer, der immer wieder Anläufe nimmt, dabei das Thema «Vater» variationsreich einzukreisen versucht. Doch die Spannung zwischen Nähe und Distanz, die dieser Beziehung eingeschrieben ist, ruft fast zwangsläufig nach einem solchen Erzählverfahren.

So erwartet die Lesenden auch keine fortlaufende Geschichte. Vielmehr gewinnen die Reflexionen des Autors ein Übergewicht gegenüber den Handlungselementen. Kurt Hasler schreibt in Kürzestabsätzen und verhält sich eher als analysierender und kommentierender Beobachter, weniger als Erzähler. Hier hätte man sich eine bessere Balance zwischen den beiden Schreibhaltungen gewünscht. Doch sei bereits verraten: Das Kapitel «Gewöhnung an den provinziellen Regen» ist ein wahres Kabinettstück. Vor allem aber das Porträt des unbeständigen Vaters, der eine äusserlich schwache Frau zur stillen Partnerin gewählt hat und als Alphatier die Familie nach seinem Bild und Gleichnis in die Zukunft führt, ersteht vielfältig, reich an Nuancen, plastisch und kraftvoll.

Gern wählt Kurt Hasler eine leicht ironische Tonlage, die manchmal gar maliziös klingt. Messerscharf fällt das Urteil über den Erzeuger aus, der sich nie wirklich für seinen Sohn interessiert hat: wie dieser war und was er war. «Aus der Ferne gesehen warst du ein guter Vater. Aus der Nähe nicht. Ich hätte mir heute einen anderen gewünscht.» Ein lapidarer Schmerz bleibt haften.

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Eine Stimme, die aufhorchen lässt

Aargauer Kuratorium / Bericht der Jury

Eine Stimme, die aufhorchen lässt... Es ist der wortreiche Monolog eines Sohnes, gehalten an das absente Du des Vaters, für den der Sohn noch einmal das Gemeinsame und Einsame des Lebens erinnert... Im eigenwilligen Ton einer zuweilen ausgreifenden, zuweilen präzis kargen Sprache lässt Kurt Hasler Szenen des Miteinanders und Aneinandervorbeis aufleben - ohne Larmoyanz, aber mit grossem Einfühlungsvermögen, sprachlicher Gestaltungskraft und dem Gespür für Leerstellen, in denen sich das Lakonische erfrischend ausschweigt.