Gestern brennt

Buch

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

160 Seiten

CHF 20.00, EUR 22.00

ISBN: 978-3-85990-018-8


3 Rezensionen

Im Sog von Elisabeth Juckers kraftvoller, bildstarker Sprache werden die Leserinnen und Leser mitten in die Identitätskrise zweier Frauen gezogen. Krisen, die beide Frauen als Chancen zu nutzen wissen. Mit ihrem schnörkellosen Schreibstil erkundet die Autorin eine Welt voller Ängste und Fantasien, innerer Konflikte und unbewältigter Erfahrungen. Sie lotet aus, ohne zu werten, ohne Imperativ, ohne Vorwurf. Das Buch ist eine Wucht – und eine Herausforderung.
In Gestern brennt geht Hab und Gut einer Frau in Flammen auf. Durch den Schock in den Grundfesten erschüttert, will Veronika, die Ich-Erzählerin, nichts mehr zu tun haben mit sich und ihrer Vergangenheit. Aufgehoben an einem unbenannten Ort, ist sie ganz froh, dem Aussenleben entronnen zu sein. In schlaflosen Nächten, aber auch in Folge der neugierigen Fragen ihrer Zimmer-Mitbewohnerin Ruth wird Veronika von Gefühlen und Gedanken überrollt. Sie begegnet dem Mädchen, das um seine Schuld am Tod eines Säuglings weiss, sieht Bilder von der Mutter, die erst lebendig wird, wenn ihre Freundin zu Besuch kommt, und setzt sich mit einer ganzen Reihe von Liebhabern auseinander, die alle ihren Platz behaupten wollen.

Kleine Inszenierungen einer Welt, von der Veronika annehmen muss, dass es ihre eigene war. In der Beziehung zwischen Veronika und Ruth spiegeln sich die Machtstrukturen der Innen- wie der Aussenwelt. Veronika, die anfangs jede Regung ihrer Mitbewohnerin als Belästigung empfindet,gewöhnt sich unmerklich an die Rolle jener, die gebraucht wird. Nach und nach erwächst aus der anfänglichen Feindseligkeit Solidarität.

In Isabella, der zweiten Erzählung, kämpft eine junge Frau um einen Platz im Leben. Sie weiss, dass es so etwas wie Glück gibt, und ist fest entschlossen, danach zu suchen.

Rezensionen

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Fesselnd und einfühlsam

Dagmar Härter / ekz-Informationsdienst

Zwei Erzählungen sind unter dem Titel vereinigt, insgesamt die 1. Buchveröffentlichung der Autorin. In der 1. Geschichte, »Gestern brennt«, versucht Veronika, traumatisiert von einem Wohnungsbrand, in einer psychiatrischen Klinik ihre Identität und ihre Vergangenbeit wiederzufinden. Sie und ihre Zimmergenossin Ruth quälen, peinigen und pflegen sich gegenseitig, Fetzen ihrer Erinnerungen mischen sich, gehen in Veronikas Gedanken ineinander üher. Es dauert lange, bis sie und mit ihr die Leser ihre Vergangenheit ordnen können. Die 2. Erzählung, »Isabella«, beschreibt eine psychisch labile Frau auf der Suche nach dem Glück. E. Jucker schreibt in einer ausgefeilten, sorgfältigen und treffenden Sprache, lotet die Abgründe der Seele aus. Beide Geschichten drehen sich um Frauen auf der Suche nach sich selbst und nach dem Lebenssinn. Beide enden versöhnlich, lassen Hoffnung. Fesselnd und einfühlsam.

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In der Hölle der verlorenen Identität

Heike Marx / Rheinlandpfalz online / 5.2.01

Die Schweizer Autorin Elisabeth Jucker liest im Mannheimer Kunstverein aus ihrer Erzählung "Gestern brennt"

Zwei Frauen in einem Zimmer. Eine setzt sich mit sich selbst auseinander. Ist sie in Erinnerungen, die Frau namens Veronika? Oder verwechselt sie sich mit der Zimmergenossin Ruth? Die hat die Hände umwickelt, weil sie sich die Fingerkuppen wund beißt. Auch Ruth hat bruchstückhafte Erinnerungen, die sich mit denen von Veronika gespenstisch überschneiden. Ruth liefert sich ihnen aus oder entzieht sich. Die Frau müht sich mit den ihren ab. Ist sie Veronika? Wer war Veronika? Hat sie den Brand gelegt, durch den ihre Identität abhanden kam? Ruth und Veronika scheinen einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ab und zu sieht eine gleichmütige Betreuerin nach dem Rechten. Regelmäßig stellt ein milder Doktor behutsame Fragen.

Minutiöse Details eines Klinikalltags wachsen in der Art, wie Veronika sie wahrnimmt, zu bedrohlichen Dimensionen an. Oder sind es die Schatten von Erinnerungen, die sie aus einer abgeschirmten, heimeligen Klinikgeborgenheit vertreiben wollen? "Wenn ich an bestimmte Begebenheiten denke, beginne ich zu schwitzen und zu zittern." "Was sie spüren, ist Angst", sagt der Doktor. Eine Hölle für die Betroffene. Wie kam sie hinein? Kann sie sich befreien? Die Spannung wächst...

"Gestern brennt" heißt die Erzählung von Elisabeth Jucker, die sie im Mannheimer Kunstverein vorstellte. Der erste Prosaband der 1954 in Schaffhausen geborenen Schweizerin enthält neben der Titelerzählung eine zweite kürzere Geschichte über eine junge Frau, die sich im starren Gefüge eines Bürobetriebs zu verlieren droht. Veronika ist eine Frau um die vierzig, die sich wiederfinden und annehmen will, nachdem ihr die Erinnerung an die Vergangenheit mit einem Wohnungsbrand verlorengegangen ist.

"Das Buch hat einen langen Weg hinter sich", sagte Elisabeth Jucker bei ihrer Lesung. "Begonnen hat er hier in Mannheim in der Literaturwerkstatt der Räuber 77". Von 1991 bis 1994 lebte sie in Schriesheim. Sie wurde Räuber-Mitglied und trat erstmals mit Texten an die Öffentlichkeit.

In "Gestern brennt" verwischt sie die Grenzen zwischen Realität und Einbildung so meisterhaft, dass bei manchen Hörern der Eindruck entstand, auch Ruth sei eine Projektion. Denn Veronika begegnet in allen anderen sich selbst. Elisabeth Jucker braucht dazu keine literarischen Kunstgriffe und blutlosen Konstruktionen. Das Unheimliche entsteht aus einer schlicht und sinnlich geschilderten Wirklichkeit.

Die Inspiration zu der Geschichte ist Elisabeth Jucker durch einen Zeitungsartikel gekommen. Eine Geschichte aus dem Leben zum Thema Identität. Von den drei möglichen zur Suche nach der verlorenen Identität geeigneten Anstaltsräumen: Psychiatrie, Krankenhaus, Gefängnis wählte sie die Psychiatrie, weil sie die am besten kannte. Interessante Literatur entsteht eben nicht aus abstrakten Vorstellungen, sondern aus dem Leben.

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Der Abgrund zwischen "ich" und "sie"

Petra Mühlhäuser / Aargauer Zeitung / 1.9.2000

Porträt Die Suche nach der eigenen Identität ist das Thema von Elisabeth Juckers erstem Buch

Vier Jahre lang hat Elisabeth Jucker ihre Erzählung "Gestern brennt" immer wieder umgeschrieben. Jetzt ist sie in ihrem ersten Buch herausgekommen.

Von Veronikas Gestern sind nur ein paar Fotos übriggeblieben, seit das Haus abgebrannt ist. Wer ist man noch, wenn man seine Vergangenheit nicht mehr an Dingen festmachen kann? Und wer könnte man sonst sein, wenn man sich nicht daran erinnern will, wer man einst war? Solche Fragen stellt Elisabeth Jucker aus Wettingen in ihrer Erzählung "Gestern brennt", die zusammen mit einer weiteren Geschichte eben in ihrem ersten Buch erschienen ist.

Sie ist ein Wechselspiel zwischen der Ich-Erzählerin einerseits und der Person, die sie vor dem Brand war andererseits die sie als "sie", "Veronika" oder einfach "die Frau" bezeichnet. Erinnerungen an früher, an die Kindheit, an Männer, die nicht in ihr Leben passten, blitzen auf. Nach und nach deutet die Autorin an, was Veronika auf der Seele lastet.

Es entspinnt sich ausserdem ein Wechselspiel zwischen dieser Veronika und Ruth, mit der sie jetzt, traumatisiert vom Brand, in einer psychiatrischen Klinik das Zimmer teilt: Zu wem gehören nun welche Erinnerungssplitter? Welche Geschichte gehört zu welcher der beiden Frauen, die kaum noch ein Privatleben haben und sich abwechselnd quälen und umsorgen? Was von all dem, was Veronika ihrem Arzt erzählt, ist wahr, obwohl sie es gleich widerruft?

Die Geschichte beginnt recht düster, fast hoffnungslos. Doch die Nebel lichten sich mit der Zeit, die Zuversicht nimmt Überhand. "Ich bin erstaunt, dass der Stoff als so schwer empfunden wird", meint die Autorin. Für sie war es eine spielerische, spannende Auseinandersetzung mit der Identität einer Frau, deren Vergangenheit nicht mehr greifbar ist. Die Idee dazu kam ihr bei der Lektüre von Zeitungsberichten über einen Brand.

Elisabeth Jucker ist Mitte vierzig, wurde in Schaffhausen geboren, hat Fotografin gelernt und als Flight Attendant gearbeitet. Als sie mit dem Fliegen aufhörte, sei das ein Bruch gewesen für sie, eine markante Veränderung ihrer Lebensweise. Vielleicht kommt ihr Interesse an der menschlichen Identität aus dieser Zeit. Jedenfalls hat sie damals angefangen zu schreiben. Seither ist einiges zusammen gekommen. Ihre Geschichten hat sie in Sammelbänden und Zeitschriften publiziert, grösstenteils blieben sie aber unveröffentlicht und füllen Ordner bei ihr zu Hause. Zu Beginn schrieb sie Gedichte, auch Texte fürs Theater hat sie verfasst.

Heute verbringt Elisabeth Jucker wenn immer möglich jeden Morgen mit Schreiben, zurzeit an einem neuen Roman. Rund fünfzehn Verlage hatte sie anschreiben müssen, bis sich "Edition 8" bereit erklärte, ihre Erzählungen zu veröffentlichen. Das sei das beste Gefühl gewesen, erklärt sie. Aber auch, das fertige Buch in Händen zu halten, sei gut. Schon einmal hatte sie versucht, einen Roman zu veröffentlichen. Dass es damals nicht klappte, darüber ist sie heute froh, da sie sich unterdessen weiterentwickelt habe.

Wie in "Gestern brennt" stehen stets Menschen im Zentrum von Elisabeth Juckers Geschichten, meistens Frauen. Es ist ihr Innenleben, das sie interessiert. "Wie stellt sich jemand dar, und was steckt dahinter?", fragt sie, die selber zurückhaltend, sensibel und ausgesprochen freundlich wirkt.

Warum sie überhaupt schreibt? "Ich mache einfach nichts anderes lieber", so die Antwort. "Es erfüllt mich mit Befriedigung, wenn am Ende genau das da steht, was ich will." Trotzdem: "Schreiben ist eine einsame Arbeit", erklärt sie. Helfen könne einem niemand, wenn man von moralischer Unterstützung absieht. Um den Austausch mit anderen zu pflegen, engagiert sie sich im Netzwerk schreibender Frauen, einem gesamtschweizerischen Verein.

Vier Jahre lang hat sich Elisabeth Jucker immer wieder mit dem Gedankenspiel um Veronika und ihre Vergangenheit befasst, die Geschichte immer wieder umgeschrieben, an der Sprache gefeilt. Die ist denn auch sehr dicht, bildhaft, stark, zum Lesen ein Genuss; die Geschichte selber originell - nicht eine, die wir anderswo auch schon gelesen haben.