Hören wie die Hennen krähen

Buch

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Aus dem Spanischen von Erich Hackl, Gert Loschütz, Dieter Masuhr, Peter Stamm u.a.

Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

288 Seiten

CHF 23.00, EUR 23.00

ISBN: 978-3-85990-005-9


2 Rezensionen

In diesem Buch erinnert sich Gabriel García Márquez – neben anderen Geschichten, die ihn fasziniert haben – an „das Drama des Lebensmüden, der vom 10. Stock eines Hochhauses springt und auf dem Weg nach unten in die Wohnungen seiner Nachbarn schaut und die kleinen häuslichen Tragödien mitkriegt, die flüchtigen Liebschaften, die kurzen Augenblicke des Glücks, Dinge, von denen die Kunde nie bis ins grosse Treppenhaus gedrungen war, so dass er im selben Moment, in dem er aufs Pflaster der Strasse schlägt, seine Einstellung zur Welt vollkommen geändert hatte und zu der Erkenntnis gelangt war, dass dieses Leben, das er soeben durch die falsche Tür verliess, wohl wert war, gelebt zu werden.“
Der kleine Text will einem wie eine Parabel für das Schicksal von Kolumbien selbst erscheinen – ein Land, das mit rasender Geschwindigkeit auf seinen eigenen Untergang zusteuert und dabei die ganze Schönheit und Vielfalt seines künstlerischen, literarischen und menschlichen Genies abspult (und sich durch dieses Erkennen vielleicht noch rettet).

Der Herausgeber Peter Schultze-Kraft, der seit fünf Jahrzehnten „mit verzweifelter Liebe“ an Kolumbien hängt, unternimmt den Versuch, das kolumbianische Drama – die Verlorenheit der Menschen, ihre materielle Not und die daraus resultierende Gewaltbereitschaft – anhand von drei Schlüsselthemen, die auch in der Literatur des Landes eine wichtige Rolle spielen, zu deuten. Diese Themen sind: die Entwurzelung, die Gewalt, die Einsamkeit der Frau.

Mit Entwurzelung ist der Verlust des traditionellen geografischen, sozialen und kulturellen Ambiente gemeint, den Millionen von Kolumbianern durch Vertreibung, wirtschaftlich bedingte Abwanderung oder den Zusammenbruch der alten Werte und Strukturen erlitten haben, der allzu rasche Wandel von einer ländlichen zu einer städtischen beziehungsweise grossstädtischen Gesellschaft. Die logische Folge der Entwurzelung war das Aufkommen der Gewalt und die Gewöhnung an sie als eine tägliche Erscheinung. Dass aber Gewalt der falsche Ausbruch aus der Einsamkeit ist – diese Erkenntnis lässt sich eindrucksvoll an der Situation der Frau in Kolumbien nachweisen. Zugleich gibt es Anzeichen, dass die Heilung der Kolumbianer von ihrer Krankheit mit der Befreiung der Frau aus ihrer Einsamkeit beginnt respektive schon begonnen hat.

Obwohl „Hören wie die Hennen krähen“ ein eigenständiges Buch ist, kann es als Ergänzung beziehungsweise Vertiefung von „Und träumten vom Leben“, dem Standardwerk der kolumbianischen Erzählkunst der letzten 100 Jahre (erschienen 2001 in der edition 8), angesehen werden.

Rezensionen

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Kraftvolle bis derbe Geschichten

Koni Löpfe / P.S. / 24.2.05

"Betreten verboten - Lebensgefahr". Mit diesem Schild warnt der Kleinbauer Efrain den Steuerschätzer vor dem Betreten seines kleines Hofes. Als der Staatsbeamte mit zitternden Händen den Hof trotzdem betritt, empfängt ihn eine Ladung frischen Kots. Er macht daraufhin seine Drohung wahr und kommt mit einem Trupp Polizei. Deren Aktion artet in eine Clowneske mit einem am Hintern verletzten Sergeanten aus. Als der Steuereinzieher es nochmals alleine versucht, empfängt ihn der Bauer mit seiner alten Flinte und trifft. Aus dem störrischen Spiel wird gewaltiger Ernst. Dies der Inhalt der Kurzgeschichte von Hector Sanchez. Eine von knapp 50 Erzählungen 34 kolumbianischer Erzähler, die Peter Schultze-Kraft zusammentrug und grösstenteils selber übersetzte. Es sind kraftvolle bis derbe Geschichten, die oft nicht gut enden. Ausgesprochen lesenswert. kl.

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Kolumbianisch

tob / Stuttgarter Zeitung / 30.4.04

Manchmal tun Übersetzer mehr als einen Auftrag annehmen und ein Manuskript ins Deutsche übersetzen. Übersetzer aus bei uns wenig bekannten Sprachen und Kulturen wie Afrika, Asien und Lateinamerika sind oft Scouts, Förderer, Liebhaber und passionierte Fachleute wie Peter Schultze-Kraft, wenn es um die kolumbianische Literatur der Geschichtenerzähler und Prosaisten geht. Er hat sich gefragt, wie Kolumbien in den Strudel von Gewalt und Zersetzung geraten konnte, und eine Sammlung mit Erzählungen aus diesem "schönen, von der Natur reich gesegneten Land" herausgegeben. Ihre Schlüsselthemen, die "kolumbianischen Dramen": "die Entwurzelung, die Gewöhnung an die Gewalt, die Einsamkeit der Frau", ihr Titel: "Hören, wie die Hennen krähen".

Die Anthologie versammelt Arbeiten von 35 kolumbianischen Schriftstellern, darunter natürlich Gabriel Garcia Marquez, aber eben auch viele Autoren, die hier zu Lande noch der Entdeckung harren und ihre Blicke hinter die Kulissen des drittgrössten lateinamerikanischen Landes werfen: etwa Nicolas Suescun, Pablo Montoya, Jose Guillermo Anjel und Piedad Bonnett. Unlängst hat Schultze-Kraft bereits eine andere grandiose kolumbianische Anthologie vorgelegt, "Und träumten vom Leben", die nun eine wunderbare Ergänzung erfährt. Ja, es stimmt, was er im Nachwort schrieb: "So lange ein Land solche Schriftsteller hat, ist es nicht verloren."

tob