Lamento

Buch

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

176 Seiten

CHF 23.00, EUR 23.00

ISBN: 978-3-85990-136-0


8 Rezensionen

Die Geschichte beginnt in Genua: Kaum besteigt die Erzählerin das Schiff, gerät die Zeit aus dem Takt und wird zum umfassenden Raum. Die Reise führt nach Sardinien, ihrer Wahlheimat, wo sie sich in einer archaischen Welt bewegt, in der ihr unbekannte Gesetze gelten. Mittelpunkt und Magnet ist für sie Antonella, Mutter von sechs Kindern, eine königliche Frau, graziös und hässlich, kraftvoll, unabhängig – und der Inbegriff von Leben. Antonella hat die Erzählerin bereitwillig in ihre grosse Familie aufgenommen, ihr einen Platz und eine Rolle darin zugewiesen. Das ländliche Sardinien wird für die Städterin zur faszinierenden und befruchtenden Gegenwelt.

Jäh erhält dieses Paradies Risse durch den Tod Antonellas – und hier setzt das eigentliche Lamento, die Totenklage, ein. Hat die Verstorbene vorher dem Ganzen Sinn verliehen, wird nun das frühere Glück fragwürdig und zerbröckelt. Tod, Erinnerung und die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit bestimmen plötzlich den Takt, Schattenseiten der Wahlfamilie treten hervor, die eigene Rolle erscheint in einem neuen, nicht nur positiven Licht. Und auch die Liebesbeziehung der Erzählerin scheitert. Diese muss auf einem langen Weg durch ihre Trauer hindurch – schreibend – zu einer neuen Mitte und zum neuen eigenen Ort finden.

Wer Esther Spinners Werk kennt, ist Nella schon einmal begegnet, als die Autorin in der Art einer Reportage über sardische Frauen berichtete. Auch in Lamento zeigt sie sich als profunde Kennerin Sardiniens und zeichnet ein eigenwilliges, packendes Gesicht des dortigen Lebens. Darüber hinaus erzählt sie die Geschichte einer besonderen Liebe und Freundschaft: Sie setzt mit Antonella einer ungewöhnlichen und starken Frauengestalt ein Denkmal und lässt uns teilhaben an der Leere, die ihr Tod hinterlässt. Nicht zuletzt ist Lamento daher ein Buch über eine der Grundfragen menschlicher Existenz: des Stellenwerts des Todes in unserem Leben.

Rezensionen

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Rede an der Vernissage

Verena Stettler / Edition 8 / 6.10.08

Liebe Anwesende

Vor etwa 28 Jahren sprach mich eine Kollegin, die im gleichen Schulhaus unterrichtete, an: Ich sei doch nicht nur Lehrerin, sondern auch Verlegerin … eine Bekannte von ihr habe einen Text geschrieben, vielleicht wäre das ja was für uns, ob sie ihn mir schicken dürfe … Warum nicht, ich schau mal rein, versprach ich ihr vage und hielt bald darauf das Manuskript einer jungen Frau in den Händen, eine autobiografische Geschichte über ihren Ausbruch aus einer konventionellen Ehe, die bei ihr zu Depressionen geführt hatte, über das Vortasten in neue Lebensformen und das erwachende Selbstbewusstsein als Frau. Der Bericht endete optimistisch mit den Worten: „aus der traum von der lebenslangen harmonie. ich beginne zu leben.“

Die Geschichte gefiel mir, ich publizierte sie 1981 und das Buch wurde ein Erfolg: Es traf einen Nerv des Lesepublikums, gab den Gefühlen vieler Frauen Ausdruck und entsprach dem Bedürfnis, mit Worten Terrain zu erobern, weiblichen Lebenserfahrungen und weiblicher Sicht Gestalt, ja überhaupt Realität zu geben. Selbstfindung war eines der wichtigen Stichwörter in der Frauenbewegung. Die Autorin des Buches war natürlich Esther Spinner – und ihr Erstling „Die Spinnerin“ war eines der ersten Bücher, die ich – damals im eco-verlag – veröffentlichte. Es freut mich daher umso mehr, dass wir mit dem vorliegenden Text „Lamento“ nach all den Jahren wieder ein gemeinsames Projekt haben.

Wieder hat der Text einen autobiografischen Hintergrund – wobei sich die Autorin selbstverständlich dichterische Freiheiten nimmt – und wieder geht es darum, eine existentielle Erfahrung, oder soll ich sagen: eine persönliche Katastrophe, mit Worten einzukreisen, sie auszuloten, ihr entgegenzutreten und sie schöpferisch zu fassen. Diesmal geht’s allerdings um die Grenzerfahrung von Tod und Trauer und die verheissungsvolle kollektive Aufbruchstimmung der frühen Achtzigerjahre hat längst einer persönlicheren Weltsicht Platz gemacht. Die Schreiberin ist weitgehend auf sich selbst gestellt und macht ihren Weg im Wesentlichen individuell. Fast hätte ich gesagt: allein. Aber das stimmt so nicht: Da ist ja auch noch die Liebe als wesentliches Thema der Erzählung.

Lebenszeitlich gesehen schliesst „Lamento“ an Esther Spinners erste Bücher an, an die „Spinnerin“ und vor allem an „Nella“. Wer die beiden Werke gelesen hat, wird ProtagonistInnen und Situation wieder erkennen: die Schweizerin, die in Sardinien fasziniert in eine archaische Welt eintaucht, dort Fuss fasst und eine Wahlheimat findet, eine zweite Familie, eine neue Rolle – und eine Liebe. Die zu Antonella, Mutter von sechs Kindern, einer unabhängigen, kraftvollen Frau, welche als Mittelpunkt diese Gegenwelt im Gleichgewicht hält. Antonella verunglückt und damit gerät die Welt aus den Fugen. „Lamento“ schildert eindrücklich die Verlorenheit der Hinterbliebenen, wenn eine geliebte Person stirbt. Sie zeichnet eine Erfahrung nach, die – so persönlich sie ist – Allgemeingültigkeit für sich behaupten kann, in ähnlicher Form wohl auch von andern erlebt wird. Das Lamento, die Totenklage, hat denn auch dem Buch den Titel gegeben. Durch den Ausdruck des Schmerzes, das Wort, versucht die Erzählerin die Leere zu füllen, die durch den Verlust entstanden ist. Sie nimmt rituell Abschied von einer zentralen Person in ihrem Leben, von einer Epoche, ja: von einem Teil ihrer selbst und versucht damit das Trauma zu bewältigen. Wie es die Sprache aber so in sich hat, benennt sie nicht nur die Lücke, sondern füllt sie diese gleichzeitig schöpferisch, indem sie dem Vermissten Gestalt gibt.

So erleben wir als Lesepublikum nicht nur die Verlassenheit und die Trauer der Erzählerin mit, sondern tauchen auch in den Glanz ihrer Gegenwelt ein. Vor unsern Augen entsteht ein Sardinien, karg und farbig, rau und warm, das es in dieser Form nicht mehr ganz gibt – wie wir im dritten Teil des Textes erfahren: Esther Spinner hat die Insel spürbar nicht einfach als Touristin bereist, sondern sich intensiv auf das dortige Leben eingelassen und sich auch mit Geschichte, Literatur und Sprache auseinandergesetzt. Vor allem aber schenkt sie uns das Porträt Antonellas, das, mit liebendem und klarem Blick gezeichnet, deren Vitalität, deren Energie samt allen Ecken und Kanten aufleuchten lässt: ein Denkmal, das – ohne zu verklären – die Verstorbene in aller Schönheit und Unvollkommenheit erstehen lässt und uns in den Bann dieser ungewöhnlichen Frau zieht.

Kurz gesagt – mit Esther Spinners eigenen Worten: „Lamento“ ist ein Buch über den Tod, die Liebe und die Fremde. Drei Themen, die jedes für sich reich und vielschichtig sind und gemeinsam die Eigenart dieses Buches ausmachen. Überzeugen Sie sich selbst.

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Berührendes Klagelied

Brigit Keller / Fama 5/2009

Die Schriftstellerin Esther Spinner (*1948) lebt und schreibt in Zürich und Italien. Seit 1981 veröffentlicht sie Romane, Essays, Gedichte und Texte für Kinder.

Ihr neuer Roman "Lamento" ist sehr lesenswert. Es ist ein Buch über die Liebe und den Tod und über die Akzeptanz von beiden. Wie die Autorin hat die Ich-Erzählerin oft und lange in Sardinien gelebt. Sardinien ist "mein Gegenland, mein Sehnsuchtsland, meine Zuflucht. Sardinien ist mein Abenteuer und meine Befreiung vom Alltag". Die Liebe zu diesem Land lässt sich kaum trennen von der Liebe zu Antonella, einer Sardin, Mutter von sechs Kindern, in deren Haus und Familie die Erzählerin lebt. "Lamento" ist ein Porträt von Sardinien, von Antonella und zugleich ein Buch über die Erzählerin selbst. Es ist Klagegesang und Liebeslied. Früh wird erwähnt, dass Antonella nicht mehr lebt, erinnernd wird ihr Bild entworfen: sie ist eine Frau voller Leben, zärtlich und dominant, voller Widersprüche, sie ist graziös und hässlich, unabhängig und stark.

Es ist eindrücklich, wie Esther Spinner diese Frau zu beschreiben vermag. Wir sehen, wie Antonella kocht und die Teller füllt, Wäsche aufhängt, über den Hof geht, Karten spielt, sich königlich benimmt, manchmal auch unverständlich, ungerecht, dann wieder ganz Grosse Mutter ist.

Antonellas Tod löst eine existentielle Erschütterung aus. Das Leben in Sardinien gab der Erzählerin das "Gefühl des Stetigen, des Unveränderlichen. Seit ihrem Tod bin ich ausgesetzt, bin durch den Riss in der Gegenwart zwischen Gestern und Morgen gefallen". Sie gerät selbst in den Sog des Todes. Es fällt ihr schwer, darüber zu schreiben; doch wird es hilfreich, der Trauer einen Ausdruck zu geben: "Wort für Wort ging ich zurück an den Ort des Schreckens, der mit jedem Satz etwas mehr von seinem Schrecken verlor." Und sie fand eine Form für ihr berührendes Klagelied, das zugleich eine Würdigung des Lebens wurde.

Brigit Keller

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Lamento für eine sardische Mamma

c.c. / Der Bund / 8.1.09

Esther Spinner Während Jahren hat die 1948 in Zürich geborene Schriftstellerin immer wieder einige Monate in und mit einer Familie auf Sardinien gelebt, sich der Daseinsweise des Südens ausgesetzt und das auf sich einwirken lassen, was sie in ihrem Buch "Lamento" gelegentlich Südzeit nennt. "Die Zeit steht als grosses atmendes Tier im Hof", schreibt sie einmal. Aber später, nachdem Unglück über die Familie gekommen ist, muss sie auch feststellen:"Die Zeit war kein Tier mehr, das mit seinem Atem den ganzen Hof ausfüllte, sie war klein und gehetzt geworden, sprang hin und her zwischen Vergangenheit und Zukunft."

Das ist eintreten nach dem Tod Antonellas, der Frau, die die Schweizerin in ihren Kreis aufgenommen hat, der Mamma, die alle und alles beherrschte, warmherzig und tyrannisch war, grosszügig und zugleich eigennützig stets aufs Wohl der Familie bedacht, laut und einfühlsam - ein Widerspruch zeitlebens.

Ihr, der sardischen Mamma, gilt die Trauer, das Lamento, das dem Buch den Titel gegeben hat; und in dem Esther Spinner festhält - liebevoll, genau, aufmerksam, doch nicht unkritisch - was sie alles erlebt hat, zuerst unter der Obhut Antonellas, danach manchmal beinahe als ein familiärer Ersatzmittelpunkt, nimmt sie die Leser mit hinein in die Lebensart und Landschaft Sardiniens, in die gesellschaftlichen Verhältnisse und Rituale, hinein nicht zuletzt auch in den eigenen Schmerz.

"Lamento" wird vom Verlag als Roman bezeichnet. Ein Roman ist das Buch nicht. Aber es ist ein schönes, reiches Gewirk aus Erinnerung, Beobachtung, Reflexion, Selbstsuche und Bekenntnis. (c.c.)

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Eine unvollkommene Liebe

Beatrice Eichmann-Leutenegger / NZZ / 18.12.08

Esther Spinners überzeugender Roman «Lamento»

Beatrice Eichmann-Leutenegger

Sucht nicht mancher nach der vollkommenen Liebe, als ob sie allein das Glück garantieren könnte? Doch wie jedes Kunstwerk – gemäss einem Ausspruch von Gertrude Stein – eine kleine Unvollkommenheit aufweisen sollte, so darf sich auch die Liebe mit Schatten, Makeln und Widerhaken ausstatten. Diese Erkenntnis fliegt der Ich-Erzählerin in Esther Spinners neuem Buch an einem Nachmittag während der Siesta zu, da sie als Gast im Haus ihrer befreundeten sardischen Familie weilt. Sie stellt sich für sie als ein beglückendes Begreifen jener Antonella heraus, welche die Schweizerin bezaubert und behext, irritiert und fasziniert. Denn dieses weibliche Oberhaupt einer Grossfamilie nimmt und gibt verschwenderisch, zeigt Härte und Grosszügigkeit, greift zur beschönigenden Lüge und verblüfft mit schroffer Direktheit. Auch der Frau aus der reichen Schweiz lässt Antonella nicht nur selbstlose Gastfreundschaft zukommen. Sie bleibt skeptisch, denn auf allen, die übers Meer nach Sardinien gelangen, liegt seit alters ein Fluch – bis zum Beweis des Gegenteils. So betrachtet Antonella ihren Gast vorläufig auch als willkommene Finanzhilfe für allerlei wenig transparente Unternehmungen, die sie in deren Abwesenheit vorantreibt.

Esther Spinner zeichnet ein kraftvolles, eindringliches Porträt dieser ebenso königlichen wie derben Frau, welche den uneingeschränkten Mittelpunkt bildet und zusehends das Leben ihres Gastes verändert. In der unmittelbaren Ich-Form erzählt die Autorin von ihren Aufenthalten auf Sardinien und entwirft ein plastisches Bild der Insel, ihrer Menschen und eines harten Alltags, in dem die wenigen Feste umso ungebändigter aufblühen. Sardinien präsentiert sich hier jenseits der Hotelresorts an der Costa Smeralda und weit entfernt von den Segnungen der Wohlstandsschicht im fernen Rom oder Mailand. Ein Riss zieht sich aber nicht nur durch die Gesellschaft im Süden und Norden, sondern auch durch die Zeit. Denn sobald die Reisende in Genua das Schiff besteigt, wandelt sich die Nordzeit zur Südzeit um. Alle Hektik fällt ab, und wenn sie endlich auf dem Bauerngut des sardischen Dorfes ankommt, sich einrichtet und vom schmalen Balkon hinunterschaut, steht die Zeit «als grosses atmendes Tier im Hof». Die Passagen, in denen Esther Spinner dieses Zeitgefühl in Worte und Bilder zu fassen versucht, zählen zu den schönsten Textstellen. Die einprägsamste Zäsur setzt jedoch Antonellas Tod. Die Geborgenheit, welche die Schweizerin in ihrer Familie erfahren hat, bröselt dahin, und Zwistigkeiten brechen aus. Ebenso scheitert ihre Liebe zu Ursula, die von Antonella als Orsola ganz selbstverständlich in die Familiarität einbezogen worden ist, denn es gebe «tanti modi da fare», wenn es um Liebe gehe.

So strömen nach Antonellas Tod genügend Gründe für ein «Lamento» zusammen, das bei Esther Spinner jedoch nicht der Larmoyanz zuneigt. Ihr Text, welcher nur gegen den Schluss hin einige Längen aufweist, reiht sich ein in die traditionsreiche Gattung der Klage-Literatur. So muss auch ihre Ich-Erzählerin durch das düstere Reich der Trauer hindurchgehen, die Leere nach dem Verlust aushalten, die eigene Vergänglichkeit beim Namen nennen und danach das Alphabet des Lebens neu erlernen. Esther Spinner hat in «Lamento» zentrale Themen der menschlichen Existenz überzeugend aufgefächert.