Und träumten vom Leben*

Buch

SCHULTZE.jpg

Aus dem Spanischen von Erich Hackl, Gert Loschütz, Dieter Masuhr, Peter Stamm u.a.

Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

416 Seiten

CHF 41.00, EUR 22.80

ISBN: 978-3-85990-004-2


4 Rezensionen

VERGRIFFEN

Wie kommt es, dass Kolumbien so schön und so schrecklich zugleich sein kann? Der weltweit bekannteste lebende Maler ist Kolumbianer (Fernando Botero) und der weltweit bekannteste lebende Schriftsteller auch (Gabriel García Márquez). Kolumbien hat der Welt viel geschenkt, doch die täglichen Nachrichten von Morden, Entführungen, Drogenkartellen und Korruption sind dazu angetan, einen das Fürchten zu lehren.

Kolumbien ist ein Land der Extreme. Das gilt für die Geografie, das Klima, die Vegetation: schneebedeckte Andengipfel und tropische Regenwälder, fruchtbare Täler, weite Savannen, Wüste; Berge und Meer. Und es gilt für die Menschen: Indios und Nachkommen der Spanier, Mestizen, Schwarze, »Chinos« (Asiaten) und »Turcos« (Einwanderer aus dem Libanon und Syrien). Und wer Kolumbien ein Land der Superlative nennt – der zartesten Liebeslieder, der grössten Gastfreundschaft, der geschicktesten Handwerker, ein Land der Dichter und Denker – , der hat Recht, muss aber hinzufügen, dass in diesem schönen Land »die statistische Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, grösser ist als die, in der Lotterie zu gewinnen«. Seit seiner Unabhängigkeit von Spanien hat Kolumbien fast ununterbrochen Krieg gegen sich selbst geführt, einen Krieg, dem allein in den letzten 50 Jahren über eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen sind.

Wer die politische Entwicklung Lateinamerikas in jüngerer Zeit verfolgt hat, die Kubanische Revolution, die Militärdiktaturen in Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay, schliesslich die sandinistische Revolution und den Krieg der Contra in Nicaragua, kann unschwer voraussehen, dass der nächste Hauptschauplatz der Zeitgeschichte auf diesem Kontinent Kolumbien sein wird. Denn mit dem »Plan Colombia« wird die Armee des Landes, wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen selbst im Kreuzfeuer der Kritik, derzeit für den grossen Krieg gegen die Guerrilla gerüstet, eine Guerrilla, die man in Europa immer noch romantisch verklärt sieht, deren Kampf um soziale Gerechtigkeit aber längst zu einem Machtkampf mit terroristischen und kriminellen Methoden pervertiert ist.

»Wahrscheinlich ist die Literatur der beste Weg, um dieses einzigartige, widersprüchliche, grossartige Land zu verstehen«, sagt der jüdisch-österreichische Buchhändler Hans Ungar in Bogotá. Mit diesem Leitgedanken hat der Herausgeber Peter Schultze-Kraft, der vor 40 Jahren selbst im Herzen der Bananenzone, in García Márquez‘ Welt Macondo, gelebt hat und der das Schaffen der kolumbianischen Schriftsteller seither als Freund und Förderer verfolgt, eine spannende Sammlung von 70 Geschichten zusammengestellt, die einen guten Einblick nicht nur in hundert Jahre Erzählkunst, sondern auch in die politische, soziale und psychologische Problematik Kolumbiens vermitteln. Die Fülle des Materials ist übersichtlich gegliedert, so dass Leser und Leserin neben den Zeitgenossen des Nobelpreisträgers auch die Klassiker und Vorläufer kennen lernen und die erfrischend universellen »jungen Löwen« entdecken können. Die meisten AutorInnen und fast alle Erzählungen werden zum ersten Mal in deutscher Spache vorgestellt. Ein besonderes Merkmal des Bandes ist die Massstäbe setzende Qualität der Übersetzungen aus der Hand renommierter Schriftsteller.

Rezensionen

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Vom Leben träumend

Georg Sütterlin / NZZ / 24.8.02

Kolumbiens Erzählkultur

Ohne den Nobelpreisträger Gabriel García Márquez wäre Kolumbien auf der literarischen Landkarte ein weisser Fleck. Dabei ist die Literatur dieses Landes eine der reichsten Südamerikas. Das lässt sich anhand der Anthologie «Und träumten vom Leben» leicht feststellen. Der Herausgeber Peter Schultze-Kraft hat die Literatur dieses Landes bereits mit den Sammelbänden «Das Duell» (1969) und «Guerilla-Erzählungen aus Kolumbien» (1977) vorgestellt. Er ist auch mit der aktuellen Literaturszene bestens vertraut. So erscheinen in seiner neuen Anthologie verschiedene Erzählungen noch vor ihrer Publikation auf Spanisch. Die umfangreiche Sammlung ist in vier Teile gegliedert: Zeitgenossen von García Márquez; Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts; die Generation nach García Márquez; die «jungen Löwen», die nach 1990 zu publizieren begannen. Diese Einteilung macht deutlich, welch dominante Position García Márquez einnimmt - er ist übrigens in dieser Sammlung mit einer auf Deutsch bisher unbekannten Erzählung vertreten. Seine Strahlkraft ist so stark, dass andere Talente es schwer haben, im Ausland zur Kenntnis genommen zu werden.

Die vorliegende Anthologie umfasst 73 Namen, doch bloss von 5 zeitgenössischen Autorinnen und Autoren gibt es ins Deutsche übersetzte Bücher. Neben García Márquez am erfolgreichsten sind die schwülstigen Schmöker der Laura Restrepo, die der Herausgeber jedoch ausdrücklich nicht in seine Sammlung aufnimmt. Oft wird lateinamerikanische Literatur mit der überbordenden Phantastik von García Márquez identifiziert, doch in dieser Anthologie sind tropischer Überschwang, Mystifikation und Fabulierfreude rar. Es dominieren urbane Themen, Lokalkolorit ist eher zufällig, und die sprachlichen und formalen Mittel sind fast durchgehend von beachtlichem Niveau. Im Nachwort skizziert Schultze-Kraft neben den literarischen Koordinaten auch den historischen und sozialen Rahmen Kolumbiens, eines von exzessiver Gewalttätigkeit geprägten Landes. Eine überzeugende Erklärung für die «violencia», der Hunderttausende zum Opfer gefallen sind, vermag er nicht zu geben. Wie sich die prekäre Situation in Kolumbien auf die äusseren Lebensumstände der Literaten auswirkt, machen ihre Biographien klar: Ein erheblicher Anteil der hier vorgestellten Schriftstellerinnen und Schriftsteller lebt im Ausland, die meisten als Journalisten und Akademiker.

Georg Sütterlin

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Des Patriarchen Allergie gegen Nähe

Karl-Markus Gauss / Süddeutsche Zeitung / 6.4.02

Die Guerilla als Konzern: "Und träumten vom Leben" ist eine erstaunliche Anthologie kolumbianischer Erzählungen jenseits des magischen Realismus

Von Karl-Markus Gauss

Kolumbien ist eine der ältesten Demokratien Lateinamerikas und ein Inbegriff des Schreckens. Wie von den meisten Begriffen haben wir auch von diesem kaum eine Anschauung. Natürlich, die Nachrichten vermelden es ja: da teilen sich Regierung, Drogenkartelle, Guerilla und paramilitärische Verbände das Land, und bei ihren Verteilungskämpfen sterben jedes Jahr rund 3000 Zivilisten. Aber wie es ist, in diesem Staat zu leben, in dem die Wahrscheinlichkeit, entführt zu werden, grösser ist als die, sein Leben lang unbehelligt von Gewalttaten zu bleiben, können die Nachrichten nicht vermitteln.

Die Statistik bilanziert, dass die Hälfte aller Entführungen der Welt in Kolumbien verübt wird, wo derlei nachgerade als Geschäftszweig floriert. Die Guerilla, die in den letzten fünfzehn Jahren von einer sozialrevolutionären Bewegung zum Konzern verkam, der einen Teil des Landes kontrolliert und mit den Drogenbossen ein Geschäftsabkommen geschlossen hat, erteilt gut dotierte Aufträge: das Opfer wird von gewöhnlichen Verbrechern entführt und an die Guerilla verkauft, die dann als Revolutionssteuer hohes Lösegeld eintreibt.

Die Gewalt hat Kolumbien seit über hundert Jahren im Griff. Zwischen 1899 und 1902 tobte der Bürgerkrieg der "Tausend Tage", der 100'000 Menschen das Leben kostete; nach einem Regierungswechsel im Jahr 1946 wurden die Anhänger der Liberalen Partei von denen der Konservativen ausgeplündert, aus ihren Häusern verjagt, bis der Ära der "violencia" geschätzte 300'000 Menschen zum Opfer gefallen waren. In all den von Exzessen der Gewalt geprägten Jahren seither war Kolumbien zugleich ein Staat, in dem es reguläre Wahlen, zivile Regierungen, Fussballmeisterschaften, staatlich finanzierte Lyrikfestivals und das gab, was man Alltag nennt. Wie lebt man in Kolumbien, was tun die Leute, ausser sich Gewalt zuzufügen oder sich vor Gewalt zu schützen?
Nicht nur der Zauberer

Die kolumbianische Literatur zeigt, dass die Gewalt auch das private Leben durchdringt; aber die Literatur zeigt auch, dass sich das Leben des einzelnen gleichwohl nicht in der Reaktion auf die omnipräsente violencia erschöpft. Indes, diese Literatur, wer kennt sie schon? Gewiss, da gibt es "den Zauberer", Gabriel Garcia Marquez, aber sonst? Peter Schultze-Kraft ist vor 40 Jahren zum ersten Mal nach Kolumbien gekommen; nach Dutzenden Übersetzungen und Editionen hat er sich jetzt neuerlich daran gemacht, "Erzählungen aus Kolumbien" zu sammeln und für ein unbekanntes Land und seine nicht minder unbekannte Literatur zu werben.

Immerhin 74 Erzählungen legt er vor, um zweierlei zu zeigen: dass die kolumbianische Literatur mehr aufzubieten hat als nur den einen Nobelpreisträger und dass sich ein Land nicht mit dem Schrecken identifizieren lässt, unter dessen Herrschaft es doch zweifellos steht. Im ersten der vier grossen Abschnitte, in die Schultze-Kraft seinen Stoff gliedert, deutet er an, welche Vielfalt an literarischen Strategien die Altersgenossen, Weggefährten und, ja, oft auch Gegenspieler, Konkurrenten von Garcia Marquez entwickelt haben. Eine Entdeckung ist zumal der im deutschsprachigen Raum völlig unbekannte Hector Rojas Herazo, den in seiner Heimat viele für den bedeutendsten Autor des 20. Jahrhunderts halten. Der Herausgeber hat von ihm ein Prosastück ausgewählt, das von einer merkwürdigen Begebenheit aus dem Krieg der Tausend Tage handelt, deren sich auch Garcia Marquez angenommen hat, und Schultze-Kraft weist in seinem Nachwort auf die markanten Unterschiede in der Gestaltung des historischen Stoffes hin: Rojas Herazo ist der schwierigere Autor, ein unergründlicher Erzähler, der den entschiedenen Wunsch hat, das grausame Geschehen in möglichst vielen Facetten zu erfassen und es nicht mit der Aura des "magischen Realismus" zu verklären.

Beziehungen zur Literatur von Garcia Marquez, die auf diese Weise in ihren Voraussetzungen auch selbst klarer zu erfassen ist, lassen sich in der Sammlung immer wieder erkennen. Etwa in der grandiosen Erzählung "Die Verwandung seiner Exzellenz", die wie eine Paraphrase auf den "Herbst des Patriarchen" anmutet, deren Verfasser Jorge Zalamea aber, wie wir im zweiten, der klassischen Literatur gewidmeten Abschnitt erfahren, bereits gestorben war, ehe Garcia Marquez seine grossen Werke überhaupt begonnen hatte. Zalameas Patriarch erwirbt mit der Macht eine Allergie gegen Nähe, seine "Nase hatte angefangen, unabhängig von ihm Gerüche aufzunehmen", die ihm widerlich waren, und ein penetrantes Gefühl von Ekel nötigt ihn, sich immer weiter von seinen Ministern, Untergebenen, Anhängern zu entfernen: "ohne Ankündigung oder Verordnung hatte seine Exzellenz ein neues Protokoll eingeführt, in dem das oberste Gebot Abstand war und Annäherung als Mangel an Respekt ausgelegt wurde."

Ein eigenes Kapitel ist jener Gegenwartsliteratur gewidmet, auf die das Etikett des magischen Realismus so gar nicht passen will. Darunter sind exemplarische Erzählungen, die der Gattung des "Testimonia" zugehören.: das sind Chroniken und Lebenszeugnisse, in denen jenen eine Stimme gegeben werden soll, die ohne Stimme sind. In der europäischen Literatur gibt es wenig, das dem "Testimonio" vergleichbar wäre, vielleicht am ehesten ist ihm die polnische Dokumentaristenliteratur verwandt, die von Hanna Krall bis zu Ryszard Kapuscinski reicht und sehr viele verschiedene Tonlagen kennt.
Die jungen Löwen

Kaum bekannt ist hierzulande, dass in Lateinamerika, namentlich in Argentinien oder eben auch in Kolumbien,die jüdische Literatur eine wichtige Rolle spielt. Zahlreiche osteuropäische Juden, die Europa, ihrem Kontinent der Verfolgung, entrinnen wollten, flüchteten sich nach Lateinamerika, um dort ihren Kontinent der Freiheit zu suchen. In der Buchhandlung des Österreichers Hans Ungar treffen sich in Bogota seit Jahrzehnten die aus Europa Vertriebenen, die sich nach Europa sehnen, und Antonio, der 1974 geborene Enkel Ungars, ist der jüngste Autor der Anthologie. Seine Generation der so genannten "jungen Löwen" lässt Schultze-Kraft abschliessend zu ihrem Wort kommen, und ausser Antonio Ungar sind auch Harold Kremer, Esther Fleisacher, Marco Schwartz und andere die Nachfahren polnischer, rumänischer, russischer oder österreichischer Juden, die einst vor Pogrom und Verfolgung nach Kolumbien geflohen waren.

Freilich, die Freiheit, die die Grosseltern suchten und in einem Land fanden, das "einzigartig, widersprüchlich, grossartig" ist, wie es der greise Buchhändler Hans Ungar formuliert, ist für sie, die Kindeskinder der einst Geretteten, prekär geworden. Und so ist längst eine Emigration entstanden, die in die Gegenrichtung verläuft und viele verfolgte, bedrohte Autoren ausser Landes hat gehen lassen. Sie leben in Israel wie Harold Kremer, sterben in Frankreich wie die wohl bedeutendste kolumbianische Erzählerin der Moderne, Marvel Moreno, oder arbeiten in Deutschland wie Louis Fayad, dessen Romane in Berlin entstehen und in Kolumbien veröffentlicht und gelesen werden. Was sie in die Fremde getrieben hat, ist eine Heimat, die zu ewiger Wiederholung verdammt scheint und von der der früh verstorbene Gonzalo Arango einmal geschrieben hat: "ihre Vergangenheit und ihre Zukunft sind schon lange eins."

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Die schreibende Verwandtschaft des Nobelpreisträgers

Georg Sütterlin / Der Bund / 16.3.02

Der Sammelband "Und träumten vom Leben" ermöglicht einen Streifzug durch eine unbekannte Literaturlandschaft: Kolumbien.

Georg Sütterlin

Von Gabriel GarcIa Marquez erschien 1967 "Hundert Jahre Einsamkeit". Dieser Roman wurde weltweit übersetzt und ist inzwischen zum grössten Verkaufserfolg eines Buches aus Lateinamerika geworden. Sein Verfasser ist spätestens seit der Verleihung des Nobelpreises 1982 die Verkörperung der lateinamerikanischen Literatur schlechthin.

García Márquez stammt aus Kolumbien; ohne ihn wäre dieses Land zwischen Anden, Dschungel und Karibik ein weisser Fleck auf der literarischen Landkarte. Doch die kolumbianische Literatur beschränkt sich nicht auf Márquez. Eine Vorstellung von ihrer Vielfalt ermöglicht jetzt die umfangreiche und hervorragend edierte Anthologie "Und träumten vom Leben. Erzählungen aus Kolumbien". Ein kenntnisreicherer, kompetenterer Herausgeber als Peter Schultze-Kraft lässt sich kaum denken.

Schultze-Kraft hat in den Sechzigerjahren in Kolumbien gelebt. 1969 hat er "Das Duell und andere kolumbianische Erzählungen" veröffentlicht, das erste repräsentative Panorama der Erzählkunst des Landes. 1977 veröffentlichte er "Guerrilla-Erzählungen aus Kolumbien". Später hat er in zahlreichen anderen Anthologien kolumbianische Autorinnen und Autoren bekannt gemacht. Auch mit der aktuellen Literaturszene ist Schultze-Kraft bestens vertraut. So erscheinen in seiner neuen Anthologie verschiedene Erzählungen noch vor ihrer Publikation auf Spanisch. Einige wurden sogar eigens für diese Sammlung verfasst.

Márquez als Zäsur

In der Literatur Kolumbiens bildet García Márquez die wichtigste Zäsur. Das kommt auch in der Gliederung der vorliegenden Anthologie zum Ausdruck. Eine Abteilung ist ausdrücklich den Zeitgenossen von García Márquez gewidmet, während eine andere die Generation nach Márquez vorstellt. Dessen Strahlkraft ist so stark, dass andere Talente es schwer haben, im Ausland überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden. Diese Anthologie umfasst 73 Namen, doch bloss von fünf zeitgenössischen Autorinnen und Autoren gibt es ins Deutsche übersetzte Bücher. Am erfolgreichsten sind die schwülstigen Schmöker von Laura Restrepo, die der Herausgeber ausdrücklich nicht in seine Sammlung aufgenommen hat. Dass Erfolg aber nicht auf Kosten der literarischen Qualität gehen muss, belegt das Werk von Márquez. Die hier abgedruckte Erzählung aus seinen Anfängen - sie erscheint zum ersten Mal auf Deutsch - ist allerdings thematisch vage und prägt sich auch sprachlich nicht ein.

Wer es gewohnt ist, lateinamerikanische Literatur mit der überbordenden Phantastikvon García Márquez zu identifizieren, wird überrascht sein von der Vielzahl der Stimmen. Entweder gibt es keine kolumbianischen Epigonen von Márquez oder der Herausgeber hat sie weggelassen. Überhaupt sind tropischer Überschwang, Mystifikation und Fabulierfreude rar. Es dominieren urbane Themen, Lokalkolorit ist eher zufällig, und die sprachlichen und formalen Mittel sind vielfältig und fast durchgehend von beachtlichem Niveau.

Nehmen wir Nicolás Suescún und Jairo Mercado Romero, zwei sehr unterschiedliche Autoren. Während der eine mit scharfen Beobachtungen das Bild einer ehelichen Hölle entwirft, schildert der andere träurnerisch-suggestiv die Freundschaft zwischen einem Jungen und seinem Pferd. Und nichts ausser der Nationalität verbindet Luis Tejada, der die burleske Auferstehung eines Generals schildert, mit Juan Carlos Botero, Sohn des Malers Fernando Botero, der mit der packenden Geschichte eines beinahe tödlich verlaufenden Tauchgangs eine der besten Erzählungen dieses Bandes geschrieben hat.

Phantastik

Humor ist überraschend häufig, vor allem bei jüngeren Autoren. Was etwa Azriel Bibliowicz mit einem jüdischen Bibelforscher anstellt, der im Verkehrschaos in Bogota festsitzt, ist meisterhaft. Die Phantastik nimmt in diesen Erzählungen Ausprägungen an, die sich sehr von García Márquez unterscheiden. René Rebetez etwa, Sohn eines Schweizers, erinnert mit seiner präzisen, geschliffenen Erzählung an Julio Cortázar. Einige der besten Texte dieser Anthologie stammen von Autoren, die sich dem "Nadaismus" verschrieben haben. Diese anarchisch-dadaistische Bewegung wandte sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gegen eine Gesellschaft, die den blutjungen "Nadaistas" als bankrott und korrupt erschien.

Eine kolumbianische Literatur gibt es erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Vollständigkeit halber sind einige Kiassiker aufgenommen. Die folkloristischen Genrebilder des Tomás Carrasquilla sind noch immer vergnüglich. Der einstige Erfolgsroman "María" (1867) von Jorge Isaacs hingegen ist seiner Schwülstigkeit und Sentimentalität wegen heute fast unleserlich, und José Eustacio Riveras "Der Strudel" (1924), die Beschwörung des Dschungels als "grüne Hölle", wirkt in unserer Zeit, da Urwälder als bedrohte Ökosysteme betrachtet werden, ziemlich komisch. Ebenfalls der Vollständigkeit halber hätte in diese Anthologie eine Kostprobe des Vlelschreibers und rabiaten Pamphletisten J. M. Vargas Vila aufgenommen werden können, der um die Jahrundertwende in Lateinamerika eine Popularität genoss, wie sie in unseren Tagen García Márquez zuteil wurde.

Spuren derGewalt

In seinem ausführlichen Nachwort skizziert Peter Schultze-Kraft neben den literarischen Koordinaten auch den historischen und sozialen Rahmen Kolumbiens, eines von exzessiver Gewalttätigkeit geprägten Landes. Eine überzeugende Erklärung für die "violencia", der Hunderttausende zum Opfer gefallen sind, vermag er nicht zu geben. So folgt man den Spuren der Gewalt in den schriftstellerischen Zeugnissen, etwa in Oscar Collazos lakonischer Geschichte über einen Vater und seinen Sohn, die als "sicarios" arbeiten, als Auftragskiller.

Wie sich die prekäre Situation in Kolumbien auf die äusseren Lebensumstände der Literaten auswirkt, machen ihre Biografien klar: Ein erheblicher Anteil der hier vorgestellten Schriftstellerinnen und Schriftsteller lebt im Ausland, die meisten als Journalisten und Akademiker. Dabei war Kolumbien einst ein Land, wo Fremde aus aller Welt Zuflucht fanden, auch Juden. Sie sind in dieser Anthologie zahlreich vertreten. Wenige Erzählungen hinterlassen einen so starken Nachhall wie "Die Überlebende" von Marco Schwartz Rodacky. Behutsam und mit unfehlbarem Instinkt für das Wesentliche zeichnet der Autor das Bild einer jüdischen Exilgemeinde an der glühend heissen Karibikküste, die erst unmerklich, dann immer rascher der unerbittlich fortschreitenden Zeit zum Opfer fällt. Was bleibt, sind Grabsteine und Erinnerungen. Und Literatur.

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Die Violencia treibt bunte Blüten

Christoph Kuhn / Tagesanzeiger

Kolumbien bedeutet heute Gewalt und Bürgerkrieg. Dass dieses Land aber auch über eine der reichhaltigsten Literaturen Lateinamerikas verfügt, kann jetzt nachgeprüft werden.

Von Christoph Kuhn

Kolumbiens trauriger Ruf eines Landes, in dem die Violencia, die Gewalt, triumphiert, datiert aus den Vierzigerjahren, als sich die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen zunehmend verschärften, in unvorstellbaren Grausamkeiten und gegenseitigen Abschlachtungen ausarteten. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände haben seither Hunderttausende von Toten gefordert. Heute kämpft eine von der USA massiv aus? und aufgerüstete Armee gegen eine grosse und eine kleine Guerilla, die sich aus Entführungen, Erpressungen und Drogengeschäften finanzieren und wohl selber nicht mehr an die Ideale ihrer Anfänge glauben. Der Staat präsentiert sich in desolatem Zustand, verwahrlost, ohnmächtig. Ultrarechte paramilitärische Mörderbanden, von den Grossgrundbesitzern angeheuert, terrorisieren die Landbevölkerung. Sie, die Guerilla und die Armee haben geschätzte 1,5 Millionen Kolumbianer zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht. Gewöhnliche Kriminalität, Gewaltbereitschaft nehmen ständig zu ? und kein Ende der Schrecken, kein Ausweg, kein Frieden in Sicht.

Gerade dieses bis in die Grundfesten zerrüttete und erschütterte Land verfügt über eine der besonders abwechslungsreichen und fantasievollen Literaturen Lateinamerikas. Und dieses Schrifttum, auch das aktuellere, erschöpft sich keineswegs in Abbildungen der kruden Realität. Es sieht vielmehr so aus, als ob es sich die zeitgenössischen Autoren Kolumbiens zur Aufgabe gemacht hätten, das Land hinter dem Land aufzuspüren und zu schildern: die andere Realität hinter der offenkundigen. Wenn sie sich aber doch einlassen auf Schrecken und Gewalt, dann in einer meist eindrücklich unpathetischen Art, was die entsprechenden Erzählungen um so packender erscheinen lässt.

Die Reise

Unter dem Titel "Und träumen vom Leben" hat Peter Schultze Kraft eine Anthologie herausgegeben, die 74 Texte umfasst: die meisten stammen von Autoren des 20. Jahrhunderts; einige Vorläufer runden das Bild ab. Der Herausgeber konnte sich auf eine Reihe ausgewiesener Übersetzerinnen und Übersetzer verlassen und hat selber einen Teil der Geschichten ins Deutsche übertragen. Ein paar vergleichende Stichproben zeigen, dass Stil und Tonart der so verschiedenen Autoren mit gebührender Sorgfalt behandelt wurden.

Dass es in Kolumbien Autoren gibt, die den Vergleich mit ihrem weltberühmten Landsmann Gabriel Garcia Marquez nicht zu scheuen brauchen, zeigt bereits die Eingangserzählung. Sie heisst "Die Reise". Das Thema zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Band und stammt vom fast 80-jährigen Alvaro Mutis, dessen Romane rund um die Figur des Seefahrers Macqroll mitunter conradsche Grösse erreichen. Zweieinhalb Seiten braucht Mutis, um in "Die Reise" eine Eisenbahnfahrt von 122 km Länge zu beschreiben, vom Hochland der Hauptstadt ins heisse Tiefland. Sie dauert Monate, bringt Geburt, Liebe und Tod, die spektakulärsten Landschaften und verschiedensten Menschen zusammen. Eine wilde, fantastische Lebensreise. Eines Tages stellt die Eisenbahn den Betrieb ein, die Gleise und Wagen werden von der Vegetation überwuchert (ein reales Phänomen, dem man in vielen Ländern Lateinamerikas begegnen kann).

Eine andere, täglich aufs neue angetretene Reise erzählt Dario Ruiz Gomez aus der Perspektive eines Jungen, der im Schulbus durch reiche und arme Viertel Bogotas gekarrt wird. Ein Panoptikum der Stadt wird ausgebreitet, spannend und gefährlich, die Stadt als Welt, die erlebt und begriffen sein will, erschauern lässt und einen zu verschlingen droht. Noch einmal das gleiche Thema, dieses Mal in ironischer Brechung, variiert Santiago Gamboa, wenn er in "Reise ans Ende der Welt" den Horrortrip einer verwöhnten jungen Mittelstandsfrau durch den Verkehr von Bogota schildert. Diesen Zivilisationsdschungel - und den Stau, den er verursacht ? benutzt schliesslich auch Azriel Bibliowicz in seiner den Band abschliessenden Meditation über den Ursprung der Bibel ("Der Stau zu Babel").

Barbarentum und Fantasie muten wie zwei Pole an, zwischen denen sich Kolumbiens moderne Prosa bewegt. Sie scheinen einander zu bedingen. Garcia Marquez' Markenzeichen besteht ja gerade darin, noch der grausamsten Realität eine unreale, fantastisch wirkende Seite abzugewinnen und das real Existierende so zu bearbeiten, manchmal auch zu entschärfen, dass es erträglich wird. Viele der im Band versammelten Autoren (inklusive der ganz wenigen berücksichtigten Autorinnen) verschreiben sich der Fantasie, um die Realität zu verstehen und zu interpretieren. Jorge Zalamea zum Beispiel, der in einem der virtuosesten Stücke des Buches den Alptraum eines Präsidenten imaginiert, dessen Nase nur noch aschige Verwesungsgerüche zu wittern vermag.

Das Barbarische hat seine starken Auftritte. Lakonisch und selbstverständlich in einer Erzählung wie "Anweisungen, um mit Papa zu sterben", wo es um ein familiäres Killerkommando geht, zynisch in "Das Handy", der Aufzeichnung eines Telefongesprächs zwischen Bruder und Schwester mit heftigem Ausgang. Einen Höhepunkt erreicht der Band in der Erzählung "Die Soldaten" von Alvaro Cepeda Samudio. Hier wird eine reale Betebenheit, die blutige Niederwerfung eines Arbeiteraufstands Ende derZwanzigerjahre, im kruden Dialog zweier Soldaten verhandelt (die Dialogform ist überhaupt eine der Stärken kolumbianischer Kurzgeschichten).

Im letzten Teil seiner Anthologie versammelt der Herausgeber diejenigen, die er "die jungen Löwen" nennt. Das Spiel mit der Form bekommt zunehmend Gewicht, eine durchaus sympathische Nonchalance breitet sich aus; es besteht ein gesteigertes Interesse am Zitieren, Paraphrasieren literarischer Vorbilder oder am Weiterspinnen vorgefundener Motive; man wird kosmopolitisch, die Reise kann überallhin gehen. In dem Mass, in dem das Lokalkolorit, regionale Realitäten oder Sichtweisen abnehmen, nimmt die literarische Beliebigkeit zu. Aber das ist wohl eine weltweit zu beobachtende Tendenz. Literatur auf dem Weg in die Globalisierung.