Wind ohne Namen

Buch

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

144 Seiten

CHF 20.00, EUR 20.00

ISBN: 978-3-85990-155-1


6 Rezensionen

Mit scheinbar leicht hingeworfenen, aber äusserst präzisen Skizzen, mit rhetorischem Schwung und ironischen Untertönen lockt uns Roland Merk in die Tiefe und lässt uns teilhaben an seiner Erforschung der Welt. Das Gefährt für diesen Tauchgang ist für ihn die Lyrik mit ihrem Reichtum an Formen und Assoziationen, in denen Bilder und Erfahrungen, Gedachtes und Gefühltes in aller Freiheit nebeneinander zu stehen kommen, um so die Welt unter die Lupe nehmen zu können. Dabei entsteht eine Aufnahme des heutigen Menschen, der orientierungslos in seiner Gegenwart steht und ratlos in die Zukunft blickt.

In vier Zyklen lotet der Autor den Zustand der Welt aus: Die Meeresstimmungen von ›Skizzen einer Landschaft – Espace de Normandie‹ vermitteln als metaphorisches Tableau eine Ahnung vom Schiffbruch unserer Gesellschaft. ›Spurensuche‹ erkundet die Welt als einen offenen Text und tastet Phänomene wie Träume, Städte und Filme, aber auch das Überleben im Alltag ab. ›Wind ohne Namen‹, der dem Band seinen Titel gegeben hat, ist eine Zeichnung unseres betriebsamen Daseins und gleichzeitig Chiffre der Leere unserer Zeit. Und schliesslich stellt ›Gesang von der Nacht‹, der Brechts ›An die Nachgeborenen‹ und Hölderlins ›Hyperion‹ zum Ausgangspunkt nimmt, Fragen nach der Zukunft des Menschen.Mit einer gekonnten Mischung von Poesie und Philosophie, Ernst und Leichtigkeit lässt Roland Merk existenzielle Fragestellungen durchscheinen, schlägt er – bei höchster Aktualität der Themen – Brücken von der Antike über die Romantik bis zur Moderne und Postmoderne und entwirft Zukunftsszenarien in Science-Fiction-Manier: ein Gedichtband, der sich, bestechend durch sprachliche Virtuosität, eindringliche Bilder und hintergründigen Witz, mit den grossen Themen der Menschheit auseinandersetzt.

»Ihre Gedichte beeindrucken mich nachhaltig.«
Paul Nizon in einem Brief an den Autor

Rezensionen

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Gedankenreicher, polyphoner Text

Götz Grossklaus / Entwürfe 67/2011

Weit mehr als der Geschichten erzählende Prosaist ist es im heutigen Weltzustand der Lyriker, der sich "von Detail zu Detail" auf "Spurensuche" begibt, um die Zeichen-Schrift der Wirklichkeit zu übersetzen in die Schriftzeichen der Poesie. Weit mehr als das romanhafte Erzählen scheint das offene lyrische Sprechen - die assoziative Vernetzung des Nächsten und des Fernsten, die Rhetorik des Films, Wahrnehmung und Reflektion, das Nebeneinander des Differenten – der Erfassung der aktuellen geschichtlichen Situation angemessen zu sein.

Die Gedichte Roland Merks, erschienen in der Zürcher edition 8, entsprechen ganz diesem Anspruch. Die Sammlung gliedert sich in vier Felder der lyrischen Recherche: (1) Skizzen einer Landschaft – Espace Normandie, (2) Spurensuche, (3) Wind ohne Namen, (4) Gesang von der Nacht. Um der verlorenen Zeichenschrift der Natur auf die Spur zu kommen, wählt der Beobachter Standpunkte an den Rändern der Zeit und des Raums. Doch die Spuren verlieren sich (XII), nur noch Spuren im Sand (II); die Zeichen über den Klippen sind undeutlich, überdeutlich dagegen die Spuren der gegenwärtigen Zivilisation: das Wrack eines Tankers (VIII), ein Bunker aus dem letzten Weltkrieg (XIX). "Chiffre für ein Anderes" kann die Natur schon lange nicht mehr sein. Als Gegenwelten kommen Innenräume in Frage: Refugien, Eremitagen - die Zelle des Schreibers, der Höhlen-Bau eines neuen Robinson. In der Einsamkeit seines Exil erfassen den Autor jene Zweifel, die den Auftrag des poetischen Sprechers und Schreibers in Frage stellen: er möchte nicht in Sätzen wiederholen, was er schon hört und sieht, was die Welt ist; er will jetzt sinnlose Sätze sagen, die für sich stehen.

Der Leser ist gehalten, darauf zu achten, wo die Spurensuche "aussen" an ihre Grenze gerät. Die Spurensuche im Dickicht der Städte entziffert die Lebens- und Untergangs-Zeichen dieser Welt. Die Schlüsselworte: Guernica, Auschwitz, Hiroshima, Nagasaki, Dresden, Algier, Vietnam, Srebenica, Rwanda, Palästina, Bagdad… antworten auf die Menschheitsfragen: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?

Der Blick nach draussen kann sich erschöpfen: "Du entzifferst ... dieselbe Sprache , dasselbe Alphabeth. Du siehst von Deinem Fenster aus einen einzigen Text... wir sind, wir werden sein..." So richten die letzten Gedichte (Wind ohne Namen) den Blick endgültig nach innen. Der neue Robinson vergräbt sich "turmhochtief,erdentief", grabend stößt er auf Tiefenschichten der Geschichte. "Der Gesang von der Nacht" bildet den beeindruckenden Abschluß und formuliert ein Fazit: den Abgesang auf die prometheische Ermächtigung des Menschen. Zu Zeugen werden Hölderlin und Brecht aufgerufen.

Der Gedichtband im Ganzen: ein gedankenreicher, polyphoner Text: ironisch-spöttisch, elegisch-melancholisch, pathetisch-kritisch, der das Genre des Zeitgedichts – im Gegensatz zum Mainstream der Ich-Befindlichkeits-Lyrik – neu belebt.

Prof. Dr. Götz Großklaus, Germanist, Universität Karlsruhe: in: Entwürfe, Zeitschrift für Literatur, 67/2011.

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Lamentolyrik

Rolf Birkholz / am-erker.de

Mit dem "Gesang von der Nacht" endet Roland Merks Gedichtband Wind ohne Namen. Es ist seine Version des alten Liedes über den Zustand des Menschen, der, unempfindlich für die Nöte des Nächsten und warnende Zeichen der Natur, von Marktinteressen getrieben, besinnungslos, gierig dahinlebt.

"An den unwirtlichen Tischen dieser Zeit/ begingen wir nüchtern das Fest der Satten", und "so vergingen unsere Tage/ wie Staub und Sand/ im Wind dieser Zeit." Das klingt nach alttestamentlicher Klage und streift zugleich das Lamento moderner Leitartikellyrik. Solche Berührungen vermeidet Merk auch in den anderen Gedichten, deren Grundstimmung konsequent in dem Schlussstück kulminiert, nicht immer.

Ein Titel aus dem Band, "Prosa des Lebens – Frage des Tages", könnte auch die oft prosanahe Schreibweise des Schweizers andeuten. "Wieder einmal die Frage:/ Was ist das, das Ich?/ zwischen Kaffee und Madeleines", bewegt den Autor beim Streifen durch Paris, wo er, neben Basel, lebt.

An die geschundene Erde gebunden, steht das lyrische Ich mit der Verzweiflung auf Du und Du ("Auskunft"). Das hellt die Gefühlslage in diesem Buch kaum auf. Dabei hat Roland Merk, Jahrgang 1966, mit seinem Prophetenton ("Nichts ist von Dauer", "auf Fundamenten aus Sand") ja Recht. Ist man schon zu taub dafür?

Leichtere, dabei nicht unnahrhafte Kost liefert der Schreiber mit assoziationsreichen Beobachtungen in "Vie végétative" oder "Ithaka Beach: Nachrichten vom Sonnenstaat". Und auch ohne sich an der "Zirkulatur des Quadrats" abzumühen, gelingen - fern jenes mit der Zeit Gefälligen eines fortgesetzten Klagesounds - gut gewichtete Sachen wie diese "Materialkunde": "Ein Sprung/ nur ist der Lidschlag/ der Nacht und der Tag/ sein wachsames Auge/ traumlos kündet/ der Schlaf das Blei/ des Tages/ an".

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Lyrik als Einspruch

Urs Heinz Aerni / WOZ / 28.4.11

Er schreibt Lyrik, kann sich aber in Rage reden, wenn von unserer Gesellschaft mit ihrem Getöse die Rede ist. Roland Merk rührt im Bahnhofsbuffet Basel in seinem Kaffee. Neben der Tasse liegt sein Buch «Wind ohne Namen». In lyrischer Sprache reflektiert Merk, der in Zürich, Berlin und Bern Philosophie, Germanistik und Soziologie studierte und heute in Basel und Paris lebt, Beobachtungen und Gedanken.

Wie als Theaterautor (für sein Dok-Theater «Replay Palestine» erhielt er eine Einladung an die Volksbühne Berlin) umkreist er nun lyrisch gesellschaftliche Themen. «Wo es Literatur heute mit dieser Welt aufnehmen will, so bescheiden ihre Strategien auch sind, so stösst sie, will sie nicht blind sein, immer wieder auf Verhältnisse, die Kritik an der Gesellschaft miteinschliessen.» Auf die Frage, warum er sich für die Lyrik entschieden habe, antwortet er: «Für dieses Buch hatte ich zunächst nur ein vages Gefühl. Mir schwebte vor, so etwas wie ein literarisches Bild dieser so ratlosen und gleichzeitig von Katastrophe zu Katastrophe eilenden Epoche zu zeichnen. Dafür eignet sich nur die Lyrik!»

Nach der Lektüre schwankt der Leser zwischen Streitlust und Resignation. Absicht? «Nein, es wäre fatal, das zur Absicht machen zu wollen. Umgekehrt kann man aber auch nicht so daherkommen und den Leuten sagen, wir haben zwar verdammt viele Probleme auf dieser Erde, aber das packen wir schon.»

Die Tasse ist leer, und Merk ist in seine Überlegungen vertieft: «Wir alle wissen, dass wir gewissermassen mit 160 Kilometern pro Stunde auf eine Wand zufahren, deren Beschaffenheit und Härte uns die Wissenschaft beschrieben hat. Trotzdem tun wir so, als ob nichts geschehen wäre.» Im Lauf des Gesprächs und der Lektüre mausert sich «Wind ohne Namen» zu einem «Sturm ohne Namen». Merk würde seine Lyrik als «Einspruch» bezeichnen.

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Von Bikinis und Gedichten

Alexandra Stäheli / NZZ / 26.8.10

Was ein gutes Gedicht sei, hielten vor einiger Zeit die Teilnehmer eines fröhlichen Slam-Poetry-Wettbewerbs in Windhoek in einem knappen Vergleich fest: Ein gutes Gedicht sei wie ein Bikini, proklamierten sie, kurz und süss und so knapp, dass die Phantasie des Rezipienten angeregt und der Deutungsdrang herausgekitzelt werde. Dabei scheint interessanterweise gerade in diesem alltagspoetischen Vergleich zwischen Lyrik und Poesie ein Stilbruch aufzublitzen. Denn anders als beim Gedicht darf wohl für die Strandbekleidung gelten: Je knapper, desto rätselloser.

Ein in der Edition 8 erschienener Lyrikband lädt nun gerade dazu ein, über das Verhältnis von Länge zu Dichte, von Form zu Vieldeutigkeit eines Gedichts nachzudenken: Roland Merks «Wind ohne Namen» versammelt sowohl knappe einstrophige Momentaufnahmen, die mit Heraklit und Platon im Gepäck den Sinn unsrer Existenz erforschen, wie auch seitenlange, schweifende Prosagedichte, die — manchmal etwas zu protokollarisch und damit nach der Windhoek-Formel eben auch zu geheimnislos — beschreiben, was ist. Dabei wird das lyrische Ich jedoch in einem Text auf faszinierende Weise selbst vom Zweifel an ebendieser berichtenden Sprache gepackt: «Ich werde / jetzt nur noch sinnlose / Sätze sagen. Ich werde / nicht mehr wiederholen, / was ich schon sehe, höre, rieche / was die Welt ist.»

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Beschreibungen flüchtiger Augenblicke

Bernd Giehl / Glarean Magazin / 6.8.10

Ich bin ihm schon begegnet, dem Melancholiker R.M., der seine Melancholie so gut hinter den Beschreibungen einer normannischen Landschaft verbergen kann. Der sie nur zwischen den Zeilen hervorblicken oder sie – wie in «Skizzen einer Landschaft II» im letzten Wort aufleuchten lässt. Ich bin ihm schon begegnet – nicht an einem realen Ort – sondern in der Landschaft der Gedanken. Diese Melancholie kenne ich. Sie kann sich verbergen in den Details einer Landschaft der Normandie. Sie kann auch ausdrücklich benannt werden, wie in «Auskunft»: «Nach der Verzweiflung befragt:/ Nun ja, auch ich kenne sie, irgendwo/ an einer Straßenecke fiel sie mir/ wie eine alte Bekannte um den Hals/ seither erstattet sie mir/ regelmäßig Hausbesuche.» (S. 44) Manchmal springt sie einen direkt an und man fragt sich, ob ein Autor sich wirklich so vor seinen Lesern entblößen sollte, wie in «Prosa des Lebens – Frage des Tages». (S. 46f.) Sind Gedichte nicht ein Spiel mit Verstecken und Enthüllen, darin der Erotik ähnlich, die ja auch nicht gleich alles zeigt?

Roland Merk ist ein engagierter Autor, der eine politische Botschaft hat. Viele seiner Gedichte sagen: So geht es nicht weiter. Aber eine solche Botschaft in die Form der Lyrik zu packen ist nicht leicht. So kommt es, dass manche Gedichte zu theorielastig sind und man das alles schon hundert Mal gelesen zu haben glaubt und andere einfach nur Manifeste gegen eine Gegenwart sind, die dem Autor leer vorkommt. «Curriculum Vitae» (S.51) gehört dazu, aber auch «Auftakt» (S.9) oder «Parklandschaft in Krieg und Frieden.» (S.56) Was dort gesagt wird, kann man mindestens genauso gut in einer Glosse in der Zeitung lesen.
Zwei Ausnahmen möchte ich ihm zugestehen. Zum einen «Mission vom Mars» (S.71), wo ein Besuch von Außerirdischen auf der Erde in naher Zukunft geschildert wird, die sich nicht vorstellen können, dass es hier einmal Leben gegeben hat. Und zum anderen «Robinson» (S. 78), wo hinter der Menschheitsgeschichte bedrohlich der Abgrund sichtbar wird.

Situationen, flüchtige Augenblicke beschreiben, das kann der Lyriker Roland Merk. Und manche seiner Gedichte in seinem Band «Wind ohne Namen» haben wirkliche Qualität. Doch viele seiner Texte bleiben leider zu sehr an der Oberfläche, bergen kein Geheimnis, hinterlassen keine Spuren im Leser...

Bleibt natürlich immer die Frage, was ein gutes Gedicht ausmacht. Ob man diese Frage überhaupt theoretisch beantworten kann? Vielleicht so, dass ein gutes Gedicht seine Leser überrascht, sie vor Rätsel stellt, aber ihnen auch etwas sagt. Wobei dieses «etwas sagt» nicht unbedingt wörtlich zu nehmen ist. Es kann auch die Sprache sein, die mich anspricht, oder vielleicht nur ein paar Bilder aus dem Gedicht.
Gute Gedichte hinterlassen eine Spur in mir, sie zwingen meine zerstreute Aufmerksamkeit, sich zu konzentrieren. Womöglich sogar dazu, noch einmal nach dem Band zu greifen, weil das Gedicht mir nachgeht. Weil es mir Rätsel aufgibt, die ich so schnell nicht lösen kann.

Von dieser Qualität sind nur wenige von Merks Gedichten. Viele bleiben zu sehr an der Oberfläche, beschreiben ein paar flüchtige Augenblicke, wollen vielleicht auch nichts anderes sein als Beschreibung von ein paar Augenblicken. Andere Gedichte – «Kino» zum Beispiel (S.52) – beginnen mit einer dichten Atmosphäre, aber dann glaubt Merk erläutern zu müssen, was er meint – und damit verliert das Gedicht jeden Zauber. Situationen beschreiben – das kann der Autor, aber er traut ihnen nicht. Womöglich will er einfach zu oft etwas beweisen oder seine Leser überzeugen. Doch dafür sind Gedichte nicht geschaffen.

Besser als er selbst könnte ich’s nicht sagen: «Die wiederholten Schritte/ und Wege durchs Dickicht der Worte/ diesen Markt der Märkte/ vorbei an den Kramläden des täglichen Geschäfts/ den kindisch grinsenden Händlern/ bunter Druckfrische,/ unterwegs in ein anderes Land…» (S. 93)

Bei fast jedem Buch, das ich in die Hand nehme, hoffe ich, diesen Weg zu finden. Aber die Reise ist weit…