Lavendelduft

Buch

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Aus dem Spanischen von Reiner Kornberger

Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

336 Seiten

CHF 24.00, EUR 24.00

ISBN: 978-3-85990-118-6


1 Rezension

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlassen Millionen verelendeter Menschen aus ganz Europa ihre Heimat und versuchen ihr Glück jenseits des Meeres. „Regieren heisst bevölkern“, war damals die Devise der argentinischen Politiker, die über ein fast menschenleeres Land geboten, dessen Grenzen noch nicht festgelegt waren und in dem noch „wilde Indianergruppen“ dem „Fortschritt“ im Wege standen.

In diese noch zu erschaffende Welt kommt auch die junge Modistin Anna, die nach dem Tod ihrer Mutter das von den Russen besetzte Polen verlässt und am Rio de la Plata auf Männerschau geht. Sie trifft auf den forschen General Manuel, der sich in die selbstbewusste Polin mit dem feuerroten Haar verliebt und nicht mehr von ihr loskommt. Doch dass man als Mittellose nicht ohne weiteres in die Kreise der Oligarchie eindringt, muss Anna schmerzhaft erfahren, als ihr Geliebter sich auf Druck der Familie von ihr trennt. Mit erheblichen Geldmitteln ausgestattet, wird sie in die Pampa abgeschoben und findet sich in einem gottverlassenen Dorf am Ende einer Bahnlinie als Besitzerin eines riesigen, aber verfallenen Schuppens wieder. Doch Anna hat eine Verwendung für das Gebäude. Tatkräftig geht sie an die Umsetzung ihrer Pläne und schafft eine wahre Sensation in dieser Einöde. Nach Anna, die fast hundertjährig stirbt, wird auch die Enkelin Maria, Mitglied einer Guerillagruppe, Verwendung für „La Rosada“ finden.

Der Roman ist vor allem die Geschichte von zwei starken Frauen, die unkonventionell die Krisen ihres Lebens meistern, doch sind in ihm verwoben zahlreiche weitere Lebensgeschichten von Menschen an der Zivilisationsgrenze, auch steuert die untergehende indianische Zivilisation in der Gestalt einer alten Magierin eine Prise magischen Realismus bei. Die präzise und doch eminent lyrische Sprache zieht als unaufhaltsamer Erzählstrom den Leser in die Romanwelt hinein und verzaubert ihn. Da geraten auch banale Vorgänge zu reiner Poesie, wenn z.B. Fische entschuppt werden und es heisst: „Sie entfernten die Schuppen, welche die Winde wie silberne Fingernägel über die Ebene verstreuten.“ Ein grandioses Romandebut der argentinischen Autorin, die in ihrer Heimat gerade ihren dritten Roman veröffentlicht.

Rezensionen

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Grossmutter und Enkelin

Martin Franzbach, Das Argument 208/2009

Die Autorin (geb. 1949 in Buenos Aires) ist in ihrer Heimat durch Erzählungen, Romane und publizistische Arbeiten bekannt. Mit dem vorliegenden Roman gewann sie 1998 den zweiten Preis des angesehenen spanischen Premio Planeta. Wenn der Roman erst jetzt, zehn Jahre später, auf Deutsch vorliegt, spricht das nicht gerade für unsere Kenntnis lateinamerikanischer Gegenwartsliteratur.

Es handelt sich nicht um eine Familiensaga, von denen es auch in der lateinamerikanischen Literatur wimmelt, sondern die Verfasserin hat die Haupthandlung um Großmutter und Enkelin gruppiert. Was an dem Roman fasziniert, sind Handlungsreichtum, Anschaulichkeit der Personendarstellung und die Sprache. Zwischen 1870 und 1914 wanderten über 5,5 Millionen Europäer in Argentinien ein, was die Gesellschaft nachhaltig prägte. In diese Goldgräberzeit (Juan Bautista Alberdi: »Regieren heißt bevölkern«) fällt auch die Ankunft der hübschen polnischen Jüdin Anna Valen. Sie wird die Geliebte des wankelmütigen und konspirationsfreudigen Generals Manuel, der ihr ein Leben lang verfallen ist. Aber die gesellschaftlichen Zwänge lassen nur eine Standesehe zu. Die Modistin Anna wird mit einer üppigen Abfindung in ein Nest in der Pampa abgeschoben, Prototyp eines Dorfes wie Rulfos Comala oder García Márquez’ Macondo.

Die Verfasserin entfaltet teils aus der Sicht der Protagonistin (die fast hundert Jahre alt wird), teils aus dem Blickwinkel ihrer Enkelin María ein pralles Personenpanorama mit skurrilen Lebensläufen. Als Prinzipalin des Puffs »La Rosada« (mit deutlicher Spitze gegen die Casa Rosada, das Regierungsgebäude in der Hauptstadt) haucht Anna dem verschlafenen Ort Leben ein und mehrt ihr Vermögen. Mit Humor und Ironie schildert die Verfasserin das muntere Treiben. Im Gegensatz zur Casa Verde Vargas Llosas dient die Prostitution hier ausschließlich dem Lust- und Erwerbsgewinn.

Es fehlt nicht an historischen Persönlichkeiten, von Edmondo d’Amicis bis zu Juan Domingo und Evita Perón, die der Übersetzer in Anmerkungen charakterisiert. Kornberger hat die bildreiche Sprache so gekonnt wiedergegeben, dass sich der Text wie ein Originalwerk liest. Die Erzählung endet nostalgisch mit dem Verfall der Rosada hinter Lavendelbüschen, die mit ihrem Duft Annas Vermächtnis fortleben lassen. Man mag die beiden »starken« Frauengestalten hervorheben, aber der Reiz des Romans liegt gerade darin, dass diese Frauen auch in ihren schwachen Augenblicken skizziert sind. Die Handlung bewegt sich durchweg zwischen der Pampa und Buenos Aires in schicksalhaftem Tempo. Aber die Enkelin María löst zwei Generationen später engagiert das Vermächtnis ihrer Großmutter ein. Die grenz- und kontinentüberschreitende Flucht der Montonera María ist einer der dramatischen Höhepunkte. Mit ihrer Ankunft in Italien schließt sich der Lebenskreis, denn von Genua aus hatte die Großmutter einst ihre Reise angetreten.