Rübezahl spielte links aussen*

Buch E-Book

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

312 Seiten

CHF 30.00, EUR 21.80

ISBN: 978-3-85990-150-6


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Wird demnächst als E-Book veröffentlicht

Der Autor erinnert sich an seine Jugend als Heimkind, zuerst unter der Fuchtel katholischer Nonnen, die Bettnässer mit Schlägen und Gebeten „heilten“, dann im evangelischen Kinderheim, geführt von einem „Jünger Pestalozzis“, der aber alles mit Füssen tritt, was der grosse Pestalozzi gelehrt und gelebt hat, und der seine tyrannisch geführte Anstalt als einträgliche Fabrik für Kinderarbeit betreibt.

Rueb beschreibt eine Hölle selbstgerechter, schwarzer Pädagogik in beklemmender Bildhaftigkeit und ohne Selbstmitleid, aber auch mit Humor und Zärtlichkeit und Sinn für die poetischen Momente, die es dort auch gab. Der junge Rueb ist rebellisch, einer, der sich nicht fügen will, ein „fremdes Element“, wie der Heimleiter sagt, einer, der immer wieder Wege und Nischen zum Widerstand findet. Fussball zum Beispiel. Das proletarische Mannschafts- und Kampfspiel, das nicht mehr braucht als zwei Füsse und einen Ball. Der Obrigkeit ist es verhasst, ist es doch ein Freiraum, der sich ihrer Kontrolle entzieht. Der sagenhafte Rübezahl, der Berggeist, bewegt seine Fantasie, wird zu seinem geheimen Verbündeten, seinem zweiten Ego. Er erfindet eigene Rübezahl-Geschichten und unterhält damit die Heimzöglinge. Erzählen als eine Form von Widerstand. So schafft er sich seinen Ruf und einen neuen Namen – Rübezahl. Er wird ihm sein Leben lang bleiben.

Rübezahl wird politisch, erkennt sein Redetalent, nimmt Teil an der Aufbruchstimmung und den politischen Unruhen der Sechzigerjahre. Er wird Mitglied der kommunistischen Partei der Arbeit, bald auch Redaktor der Parteizeitung „Vorwärts“, Funktionär und schliesslich Kantonsrat. Gleichzeitig wird er Gallionsfigur der Demonstranten auf der Strasse. Er selbst steht zwischen vielen Fronten, angefeindet von rechtschaffenen Spiessern, Sektierern der ausserparlamentarischen Opposition und den bürokratischen Betonköpfen der eigenen Partei. Die ebenso allgegenwärtigen wie unbedarften Staatsschützer, führen pedantisch Buch über sein Leben. Die Fleissarbeit der Spitzel ist ihm heute zur willkommenen Erinnerungshilfe geworden.

Seine Aufzeichnungen sind autobiografisch, aber keine Autobiografie. Erlebnisberichte wechseln sich chronologisch ungebunden ab mit Essays und Reflexionen über die Wahrheiten, die Kämpfe, aber auch die Schlagworte und Irrungen jener Zeit. Er erzählt sie leidenschaftlich, selbstkritisch der Wahrheit verpflichtet. Ein Stück Schweizergeschichte und zugleich die Geschichte eines glücklichen, fruchtbaren Scheiterns. Eines Scheiterns, das mithalf, die Gesellschaft zu wandeln – von Grund auf und unwiderruflich.

„Rueb, geboren 1933, war in den 60ern ein bekannter Linkspolitiker, später durchfuhr er die Lande als POCH-Propagandist. In seinen „Erinnerungen eines Politischen“ verwebt er seine Kindheitsgeschichte als Heimzögling mit den Memoiren eines vom Schweizer Staatsschutz verfolgten Politaktivisten. Rueb macht das durchaus kritisch und selbstironisch und das ist gut so.“
Club-Ticket Nr. 36, November 09

Rezensionen

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«Ein Verlierer der närrischen Sorte»

Sten Nadolny / NZZ / 10.9.09

Franz Rueb erinnert sich an seine politisch bewegten Jahre

Sten Nadolny

Franz Rueb war in den sechziger Jahren Kommunist, «Vorwärts»-Redaktor, Kantonsrat mit der Gabe der Rede, zeitweilig Galionsfigur der Schweizer 68er, was ihn mit den Betonköpfen seiner Partei zuverlässig in Konflikt brachte. Er wurde ausgeschlossen, verliess bald die aktive Politik ganz und wurde ein glücklicher Theatermann. 1970 ging er als Dramaturg mit Peter Stein nach Berlin. Sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt ist der Inhalt dieses Erinnerungsbuches. Irgendwann kehrte der leidenschaftliche Leser und Autodidakt nach Zürich zurück, wandte sich als Autor geschichtlichen Themen zu. Jetzt hat er aus seiner Kindheit und seiner Politikerzeit eine literarisch erstaunliche Autobiografie destilliert, ein reiches, kluges und sprachmächtiges Buch über die Schweiz.

Lebensfülle

Ruebs Erzählweise ist flechtwerkartig; sie erlaubt ihm, zwischen dem Kind und dem rebellischen Politiker, zwischen Jugendeindrücken und Analyse hin und her zu springen. Das ist nicht verwirrend oder allenfalls so, wie wenn man einem beim Wein gegenübersitzt und vertrauensvoll dem folgt, was ihm gerade einfällt. Die Fülle dieses Lebens (zugleich eines krausen, bizarren Dritteljahrhunderts von den späten 1930er bis zum Anfang der 1970er Jahre) setzt sich so ohne Pedanterie allmählich zusammen, wie eine Landschaft beim Spazierengehen. Schilderung und Reflexion gehen gut ineinander. Manchmal wird in der ersten, manchmal in der dritten Person erzählt. Das hat damit zu tun, dass Franz Rueb zweierlei ist. Einmal er selbst, unser Zeitgenosse, aber auch noch der, als der er sich damals, ein chancenloses, geprügeltes Heimkind, neu erfand, um zu überleben: ein Berggeist namens Rübezahl.

Die Eltern sind geschieden, der Vater ist ständig als Ingenieur im Gebirge auf Grossbaustellen beschäftigt. Das Kind ist Bettnässer, jeden Morgen muss es zusammen mit Leidensgenossen dem Heimleiter vor aller Augen sein Versagen melden, Strafe entgegennehmen. Das Heim ist ein Landwirtschaftsbetrieb, die Kinder haben zu arbeiten wie Sklaven. Der Heimleiter, der sich in Pestalozzis Nachfolge wähnt, käme heute wohl vor Gericht. Diese Kinder haben kaum eine Chance. Aber es gibt Fluchttüren in diesem Sicherheitstrakt. Die eine heisst Fussball – Buben finden immer irgendetwas, was als Ball verwendbar ist. Der Heimleiter wettert gegen das Spiel, gegen die Abnutzung des Schuhwerks, gegen Freiheit ist er sowieso. Die zweite Fluchttür heisst Phantasie. Bei der Rübenernte erfindet sich der Bub jenen hilfreichen Riesen, der auf seiner Seite ist und ihm hilft, wenn es ganz schlimm kommt, der ihm auch helfen wird zu wachsen, vielleicht nicht gleich äusserlich, aber ein heimlicher Riese ist ja auch etwas.

Schliesslich wird er selbst Rübezahl genannt, ist ein Anführertyp, resistent gegen Autorität. Zuallererst lernt er – man weiss nicht wie – zu kämpfen. Rübezahl lebt nach dem Prinzip «So man dir gibt, nimm. So man dir nimmt, schrei!» In diesen bewegenden Passagen erinnert das Buch an «Anton Reiser» von Karl Philipp Moritz, nur dass Rübezahl sich nicht mit Schuldgefühlen aufhält. Auch mit der grossen Autobiografie «Einmal und nie wieder» von Theodor Lessing lässt es sich vergleichen, der in den Höllen seiner Kindheit nie ganz den Mut verlor und später aus all dem Erfahrungspessimismus eine Philosophie der unverdrossenen Tat entwickelte.

Sein politisches Leben erzählt Rueb auch anhand der von der Staatspolizei angefertigten «Fichen». Spitzelberichte als Gedächtnisstütze – das war eine Schmunzelidee zum Anfangen, aber er dosiert dieses Element dann glücklicherweise recht sparsam, weil diese Braven doch oft herzlich dummes Zeug notiert haben und weil nicht einmal solche Komik lange vorhält. Von Franz Ruebs Erzählen perlt zuverlässig alles Mätzchenhafte ab, es lebt von der Menschenbeobachtung, von Zärtlichkeit und Bosheit, wo sie hingehören, von der Leidenschaft der präzisen Mitteilung. Seine Sprache ist eine Lust, selbst wenn er (nicht zu oft) die alte Wildheit herausholt und schimpft, was das Zeug hält. Er hat die Gabe der sicheren Gedankenverfertigung beim Reden, schreibt flüssig «rednerisch», also gerade nicht nach Art von Politikerreden, mit einem mächtigen, funkelnden Vokabular – ein Prachtpferd von Autor.

Selbstironie

Es ist selbstverständlich, dass viel von helvetischen Dingen der 68er Zeit die Rede ist. Diese «Erinnerungen eines Politischen» berichten von damaligen Stimmungen, Vorgängen, Intrigen und Quisquilien etwa um den «Globus-Krawall», und das wird die freuen, die darüber noch Genaueres wissen wollen. Rueb erfüllt die Pflicht des Berichtens auch mit einem guten Mass an Selbstironie: «Ich bin ein Verlierer der närrischen Sorte», sagt er einmal. Das wirklich Erfreuliche ist aber, dass er nicht dazu neigt, sich und andere zu langweilen. Listig, fast hinter dem eigenen Rücken findet er Gelegenheiten, während des politischen Besichtigungsganges ein erzählerisches Medaillon nach dem anderen zu liefern: liebevoll die Schilderung von Dölf Hürlimann («Hü»), humoresk die von Theo Pinkus, meisterlich boshaft die des führenden Schweizer Maoisten «Bluemli».

Das Buch schenkt Sprachvergnügen und Pathos, macht nachdenklich und – strotzt von Vaterlandsliebe und Stolz auf die Schweiz, auf Ruebs Schweiz der einfachen Leute und sein Menschenzürich. Würde ich hier nur einen Satz schreiben dürfen, ich nennte diese Liebe des altersweisen Revoluzzers zu seinem Land das Anrührendste.

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Franz Rueb im Gespräch über sein Buch

Regionaljournal ZH SH (ab 16. Minute) / 28.12.2009