Süssland

Buch

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

256 Seiten

CHF 23.00, EUR 23.00

ISBN: 978-3-85990-148-3


7 Rezensionen

"Greet Sweetland for me!" Diesen merkwürdigen Abschiedsgruss in den Ohren, besteigt der Musiker Mark Zeller in Duala das Frachtschiff Richtung Europa. Afrika bleibt jedoch nicht zurück: Nach einem ereignisreichen Jahr als Musiklehrer in Kamerun reisen seine lebhaften Erinnerungen mit – und nicht nur sie.

Im Rückblick erleben wir mit Mark, wie er seinen Platz sucht in der andern Kultur, die ihn mit all ihrer Fremdheit und Fülle umfängt. Da ist der lebensfrohe Reverend Ngwa mit seiner Frau Helen, die ihn unter ihre Fittiche nehmen, da ist der begabte Musiker Che Jo mit seinen anzüglichen Scherzen, da ist die afrikanische Musik und vor allem diese eine hinreissende Stimme: Lamee. Mark verliebt sich in die Informatikstudentin, verbringt eine glutheisse Nacht mit ihr – und erfährt einige Wochen später, dass sie ein Kind erwartet. Nun, denkt er, gehört er dazu. Wirklich?

Mit viel Kenntnis der Verhältnisse und überragendem musikalischem Wissen lässt Ruedi Debrunner die kamerunische Welt vor uns entstehen. Witzig und mit Sinn fürs Detail schildert er, wie Mark Zeller zunächst linkisch, häufig überfordert, dann aber zunehmend gewandter eintaucht in den ungewohnten Alltag, wie er aufgenommen wird – und wie er, betrogen und beraubt, hinter der vermeintlichen Idylle den Lebenskampf in all seiner Bitterkeit erkennt: der Preis für eine Begegnung auf neuer, ehrlicher Grundlage.
Ein Buch über Musik, Kamerun und Nord-Süd-Beziehungen, spannend, kritisch und humorvoll geschrieben.

Rezensionen

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Rede an der Vernissage

Verena Stettler, Edition 8 / 9.9.09

Liebe Anwesende

Vor etwa drei Jahren habe ich Ruedi Debrunner genau hier, im Café litteraire der Stadtbibliothek Aarau, kennen gelernt. Wir feierten ebenfalls das Erscheinen eines Buches, den "Salto wortale" von Brigitte Fuchs, und Ruedi Debrunner begeisterte mich damals mit musikalischen Kapriolen, die stimmig und witzig auf die Texte eingingen, sie illustrierten oder ihnen eine unerwartete Antwort entgegensetzten: das Werk eines Vollblutmusikers. Es erstaunte mich deshalb eher, als die Edition 8 im Laufe des Abends ein Romanmanuskript von ihm angekündigt erhielt, hatten wir doch bei ihm nun wirklich keinen Text in der Schublade vermutet. Weniger überraschend war dabei, welch zentrale Rolle die Musik im bald darauf zugesandten Roman, eben "Süssland", spielt. Dies drückt sich bereits im Untertitel des nun erschienen Buches aus: "Eine afrikanisch-europäische Komposition".

Tatsächlich geht es auf verschiedenen Ebenen ums Komponieren: Einmal auf der des Plots, wo der junge Schweizer Musiker Mark Zeller ein Jahr als Musiklehrer in Kamerun verbringt und versucht, Studenten zu eigenen Liedern zu animieren, wo er sich mit fehlenden oder ungeeigneten Instrumenten herumschlägt, wo er sich inspirieren lässt von fremden Klängen, wo sich vor allem die Frage nach authentisch kamerunischer Musik inmitten von europäischem Abklatsch stellt. Dann stechen in diesem Text die Passagen hervor, in denen der Autor Musik in Worte fasst: Kenntnisreich und mit fachmännischem Vokabular zeichnet er virtuose Bilder und lässt uns über die Sprache miterleben, wie der Protagonist von den Klängen hingerissen wird. Nicht vergessen sei, wenn’s um Komposition geht, der Aufbau des Romans mit seinen zwei Hauptsträngen, die zuerst getrennt nebeneinander herlaufen, gegenseitig Motive aufnehmen, einander antworten und sich am Schluss in einem überraschenden Ende verbinden. Der eine Strang ist die "Gegenwart" der Geschichte: die Schiffsreise, die Mark Zeller von Duala nach Europa zurückführt; der andere Strang sind seine Erinnerungen, die, zeitlich genau so linear wie die Reise erzählt, im Rückblick das Afrikajahr Revue passieren lassen.

Komponieren heisst ja aber "Zusammensetzen". Mit den Stichwörtern "Afrika" und "Europa" sind wir beim eigentlichen Thema des Buches angelangt: Es geht um die Begegnung zweier Kulturen. Mark Zeller hat ein Land auf einem andern Kontinent bereist und Erfahrungen in der Fremde gemacht. In herkömmlicher Reiseliteratur heisst das oft, dass das Fremde als das absolut Andere beschrieben, dass grundsätzlich durch unsere europäische Brille geschaut und das Gesehene an unsern Massstäben gemessen wird. Ruedi Debrunner hat andere Ansprüche. Selbstverständlich reflektiert auch sein Mark Zeller vorerst alles aus seiner vertrauten Optik. Doch je näher er Land und Leuten kommt, desto mehr Platz erhält die afrikanische Sichtweise, desto eher sind Perspektivenwechsel möglich, sodass schliesslich beide Blickwinkel ergänzend nebeneinander stehen – so wie bei den bekannten optischen Täuschungen, wo auf demselben Bild sowohl eine Vase als auch zwei Profile oder sowohl eine alte Frau als auch eine junge Dame gesehen werden können.

Bei Ruedi Debrunner hat diese Begegnung durchaus heitere Züge. Mit viel Humor begleitet er seinen Helden in den ungewohnten Alltag, in den er zunächst linkisch, dann aber zunehmend gewandter eintaucht. Er wird zuerst vom lebensfrohen Reverend Ngwa und seiner Frau Helen unter die Fittiche genommen, erhält seinen Platz an der Schule und in der Gesellschaft, schliesst Freundschaften, verliebt sich in eine Stimme und die dazugehörige Informatikstudentin, Lamee, verbringt eine glutheisse Nacht mit ihr – und als er einige Wochen später erfährt, dass sie ein Kind erwartet, stürzt ihn das zuerst zwar in grosse Unsicherheit: Wie verhält sich ein anständiger Mann in Kamerun in so einem Fall? Schliesslich aber eignet er sich erleichtert und mit Freude die afrikanische Sichtweise an: Ein Kind ist immer als ein Geschenk zu betrachten. Nun ist er wirklich angekommen, denkt er, nun gehört er endgültig dazu. Wir ahnen es: Die Desillusionierung lässt nicht lange auf sich warten.

"Süssland" handelt von solchen Illusionen und Projektionen. Afrika ist ein europäischer Traum, zu dem von einer paradiesischen Natur bis zur Quelle einer ursprünglichen, differenzierten Musikalität, von der Geborgenheit im grossen Familienverband bis zu erotischen Abenteuern alle möglichen Versatzstücke unhinterfragt locken. Auf der andern Seite ist Europa umgekehrt auch ein afrikanischer Traum: Der Titel "Süssland" spielt mit dieser Vorstellung. Er ist die wörtliche Übersetzung von "Sweetland", das seinerseits wieder eine tiefsinnig witzige Verballhornung von "Switzerland" ist. Die Schweiz hat utopische Züge, verkörpert in afrikanischen Augen Reichtum, Sorglosigkeit, die Chance auf ein besseres Leben, eine Art Schlaraffenland.

Geschickt verflicht Ruedi Debrunner diese beiden Optiken, verschränkt die gegenseitigen Erwartungen und Vorurteile und lässt die Projektionen aufeinanderprallen. Wenn man diesen Roman liest, hat man den Eindruck, in aller schillernden Vielfalt mitzuerleben, wie es Europäern in Afrika wirklich ergehen kann. Dafür bilden die Erfahrungen des Autors ein solides Fundament: Ruedi Debrunner hat vier Jahre mit seiner Familie in Kamerun verbracht und kann von daher aus dem Vollen schöpfen, er erzählt spürbar aus eigener Beobachtung. Doch wohlverstanden: Auch wenn die Hauptperson gleich wie der Autor ihren Lebensunterhalt als Musiklehrer verdient, ist „Süssland“ doch kein Schlüsselroman, wo reale Personen mehr oder weniger geschickt verkleidet vorkommen und auf die Enttarnung durch Eingeweihte warten oder gar Geständnisse in literarischer Form vorgebracht werden. Reale Erlebnisse, Begegnungen und Beobachtungen geben das Material für die Fiktion her, sind Elemente der kunstvollen Komposition. Und diese spielt nun geschickt mit den Gegensätzen, lässt daraus Dramatik, Erkenntnis, aber auch einen Humor entstehen, der auf einem Verständnis beider Kulturen beruht, oder vielleicht noch tiefer: auf einer Einsicht in allgemein menschliche Schwächen unabhängig von Hautfarbe und Herkunft. Und genau so entwickelt auch der Held der Geschichte im Laufe seiner Abenteuer ein realistischeres, mitfühlenderes und ehrlicheres Verhältnis zu seinen afrikanischen Bekannten.

Noch etwas anderes unterscheidet "Süssland" von einem simplen Erlebnisbericht in Romanform. Der Weg, den Ruedi Debrunner beschreibt, die Vorstellung, mittels einer Reise in die Fremde zu Reife und zu neuen Einsichten zu gelangen, ist ein klassisches Motiv: Man denke nur an Parzival oder Wilhelm Meister und Konsorten, die auch in modernerer Literatur jede Menge verwandter Seelen wie z. B. Frodo oder Harry Potter gefunden haben. Das Ausgesetztsein, der Druck, sich auf unsicherem Terrain zu behaupten, aber auch die Offenheit für neue Eindrücke, kurz dieses Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Werden scheint eine existenzielle Erfahrung zu sein, die auch das Grundmuster für den Entwicklungsroman legt. Sie kennen es: Der Protagonist – oder die Protagonistin – reibt sich an seiner Umwelt und erfährt in dieser Auseinandersetzung seine Stärken und seine Grenzen, erleidet Verluste und muss sich die Frage nach seiner Identität und nach seinem Platz in der Gesellschaft stellen. Tatsächlich ist „Süssland“ eine moderne Variante des Entwicklungsromans, wie sie sich in unserer globalisierten Welt abspielen kann. Auch bei Mark Zeller bedeutet das Eintauchen in die fremde Welt gleichzeitig, dass er in sich gehen und sich dem eigenen Lebensentwurf stellen muss, z.B. meldet sich, als er sich in Lamee verliebt, gleich die kritische Stimme seiner Schweizer Freundin übers Internet; auch er muss nach anfänglicher Begeisterung allerhand negative Erfahrungen durchlaufen, die ihn in seiner persönlichen Entwicklung weiterbringen – immer stärker mischen sich ins fröhliche Dur (um ein musikalisches Bild zu gebrauchen) ernsthaftere Molltöne: Er begegnet dem Tod, wird betrogen und beraubt und erkennt ernüchtert, wie wenig Ahnung er vom Existenzkampf seiner Bekannten gehabt hat und wie fremd er bei aller vermeintlichen Integration geblieben ist.

Wie es sich aber bei einem Entwicklungsroman gehört, ist dies nicht der Weisheit letzter Schluss: Die Desillusionierung markiert die Wende zu einer Begegnung auf einer neuen, ehrlichen Grundlage, zu so was wie echter Freundschaft.