Lotte Hümbelin

Autorin/Autor

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Lotte Hümbelin

geboren im Januar 1909 in Wien, gestorben im Juni 2008 in Zürich, kam 1939 als Flüchtling in die Schweiz. Obwohl sie als Jüdin und Kommunistin eindeutig in Gefahr war, von der Gestapo verhaftet zu werden, wies sie die Schweiz aus. Wenige Wochen vor Ausbruch des 2. Weltkriegs heiratete sie in London den Zürcher Kommunisten Fred Hümbelin und wurde so Schweizerin. Sie trat der PdA bei und schrieb für den "Vorwärts" regelmässig Theaterkritiken. Darüber hinaus engagierte sie sich intensiv für das Frauenstimmrecht. An der Universität Zürich liess sie sich zur Heilpädagogin ausbilden und war danach freiberuflich auf diesem Gebiet tätig. Daneben zog sie ihren Sohn gross. Mit 90 Jahren veröffentlichte sie unter dem Titel "Mein eigener Kopf" ihre äusserst spannende Lebensgeschichte.

Hintergrund

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Nachruf auf Lotte Hümbelin / Jeannine Horni

Von Jeannine Horni

Ich habe Lotte Hümbelin vor ziemlich genau 10 Jahren als Lektorin Ihrer Autobiografie "Mein eigener Kopf" kennen gelernt. Ich traf eine energische, kluge und warmherzige Frau, die trotz ihres hohen Alters stets neugierig auf die Welt war. Lotte hat mich zur Autorin ihres Nachrufs erkoren, weil sie dachte, ich kennte aufgrund der Arbeit an ihrem Buch ihre Lebensgeschichte am besten. Schon damals wie auch jetzt, beim Verfassen dieses Nachrufs, habe ich gedacht: Lotte hat sieben Leben gelebt, mindestens. Von daher bitte ich um Nachsicht gegenüber der Länge des folgenden Lebenslaufs. Und ich hoffe, dass Lottes Lebensgeschichte sie genau so fesseln wird wie mich.

Charlotte wird am 22. Januar 1909 in Wien geboren, mitten hinein in eine Zeit, die mit ihren Wirren schon den Untergang der Donaumonarchie ankündigt. Vater Bernhard Bindel und Mutter Eugenie Kern haben sich in Wien kennen gelernt, stammen aber aus völlig anderen Ecken des Vielvölkerreiches. Die Mutter kommt aus einem Schwabendorf an der österreichisch-ungarischen Grenze, der Vater aus der Stadt Lemberg, die später zum ukrainischen Lwow wird. Er bringt die zwei kleinen Söhne Jack und Jula mit in die Ehe.

Die Familie Bindel lebt in einer ärmlichen Mietskaserne im Judenviertel Wiens, der Leopoldstadt. Lotte erinnert sich in ihren wunderschön geschriebenen Memoiren mit Grausen, wie nachts – kaum war das Licht an – aus den Löchern und Ritzen die Schwaben- und Russenkäfer herausraschelten, denen die Mutter trotz wilden Putzens nicht Herr wird. Gleich um die Ecke der Wohnung betreibt der Vater einen Friseursalon. Was er verdient, reicht knapp, um die Familie über Wasser zu halten.

Lotte verlebte eine Jugend, in der es – laut ihrer eigenen Aussage – nicht viele Farbtupfer gibt. Einer der Höhepunkte sind ihre jährlichen Sommerferien auf dem Land bei Verwandten der Mutter im so genannten Kroatendorf. Das Stadtkind trifft hier eine ganz andere, faszinierende Welt, in die der erste Weltkrieg kaum reicht. Auch der Zusammenbruch des Habsburgerreiches und die Ausrufung der demokratischen Republik Österreich ändert hier nicht viel.

Mit 15 kann Lotte dank eines Stipendiums, das ihr die Lehrerinnen verschaffen, in das Mädchengymnasium eintreten. Ihre Mitschülerinnen stammen zumeist aus besseren Kreisen, unter denen die kleine Bindel eine Aussenseiterin bleibt. Das Abitur schafft sie ohne grosse Mühe, sehr zum Stolz des Vaters, der seine intelligente Tochter bewundert, wegen ihres eigensinnigen Kopfes aber zugleich fürchtet. Im selben Jahr, 1928, immatrikuliert sich Lotte an der Universität Wien für ein Geschichtsstudium.

Noch während ihrer Zeit am Gymnasium schliesst sie sich der Sozialistischen Arbeiterjugend an. Wien ist unterdessen "rot" geworden, der Austromarxismus mit seinen mutigen sozialen Experimenten findet breite Unterstützung. Trotz schlechter Wirtschaftslage herrscht Aufbruchstimmung, die auch Lotte erfasst. Sie liest die Schriften der politischen Theoretiker jener Zeit und schreibt: "Das Verständnis für die sozialen Fragen musste ich mir nicht auf dem Umweg über die Theorie erst mühselig erarbeiten. Alles war wegen meiner persönlichen Geschichte in mir vorbereitet – die Theorie war nur eine Bestätigung des bereits intensiv Erlebten."

Mit 17 radikalisiert sie sich und tritt in den Kommunistischen Jugendverband Österreichs ein. In der kommunistischen Bewegung findet sie ihre politische Heimat. Ihr Leitbild wird Alfred Klahr, später einer der wichtigen Theoretiker der KPÖ. Im Juli 1927 bekommt sie den Arbeiteraufstand in Wien, der 90 Tote und hunderte Verletzte fordert, hautnah mit. Danach hält sie sich praktisch nur noch im KJV-Lokal im Arbeiterheim auf, stürzt sich in fieberhafte Aktivitäten und vernachlässigt die Schule.

Lotte ist zwar blitzgescheit und intellektuell auf dem Qui-vive, leidet aber darunter, dass kein Mann das hässliche Entlein, als das sie sich sieht, anschaut. Umso heftiger verliebt sie sich dann in einen feschen jungen Sudetendeutschen, der unter dem Decknamen Hermes ab und zu an den KJV-Treffen auftaucht, von allen Mädchen angehimmelt wird und schliesslich ausgerechnet sie als Partnerin auswählt. Die beiden bleiben zehn Jahre lang ein Paar und führen – immer wieder voneinander getrennt – eine wechselvolle Beziehung, die für Lotte auch viel schmerzliche Gefühle bringt. Hermann Köhler, wie er richtig heisst, ist Mitglied der OMS, einer Art Informations- und Spionageorganisation, die von der russischen Partei aufgebaut worden ist. Lotte wird so etwas wie seine Privatsekretärin. Neben ihrem mehr schlecht als recht verfolgten Geschichtsstudium an der Universität Wien erledigt sie für Hermes unterschiedlichste Hilfsarbeiten, schreibt Flugblätter, stellt Schulungsprogramme zusammen und lässt sich auf vielerlei Art instrumentalisieren.

1929 erleidet Lotte einen Nervenzusammenbruch, sie ist erfüllt von einer grossen inneren Unruhe und zugleich völlig erschöpft, sie kann nicht mehr essen, nicht mehr schlafen. Heute würde man von einem Burn-out sprechen. In einem Sanatorium in der Nähe von Wien kommt sie langsam wieder zu Kräften. Als die Mutter ihr bei einem Besuch die Beziehung mit dem nicht immer treuen Hermes auszureden versucht, bricht sie mit der Familie und zieht – kaum genesen – zu ihrem Geliebten. Sie ist 20 Jahre alt.

1930 wird Hermann Köhler nach Moskau berufen, um eine Zeitlang in der Jugendinternationale mitzuarbeiten. Lotte gibt ihr Studium auf und folgt ihm, begleitet von ihrer Freundin Gerti Schindel, im Juli 1931 nach. Zusammen mit Hermes bezieht sie ein Zimmer im Hotel Lux, in dem zu jener Zeit zahlreiche Führungsmitglieder der Kommunistischen Internationale, vor allem deutsche Emigranten, leben. Lotte lernt viele von ihnen kennen. Während Hermes arbeitet, nimmt sie Russischstunden und erkundet die Stadt Moskau. Was sie sieht, gibt ihr zu denken. Die materielle Not der Bevölkerung scheint ihr vor allem angesichts der Privilegien der Komintern-Angehörigen im Hotel Lux ein Hohn.

Nach ein paar Monaten tritt Lotte eine Stelle als Redaktorin in der Verlagsgenossenschaft für ausländische Literatur an. Sie bekommt die Anfänge der stalinistischen Diktatur mit, ohne sie wirklich wahrzunehmen. 1932 wird Hermes nach Lettland geschickt. Lotte bleibt allein in Moskau zurück und fühlt sich einsam. Im Sommer hat sie eine kurze Affäre mit einem Arbeitskollegen. Als Hermes, der in Riga ebenfalls eine Liebschaft hatte, im Herbst zurückkommt, merkt sie, dass etwas zerbrochen ist. Es ist der Anfang von einem langen Ende.

Wenig später entscheidet sich Lotte, nach Österreich zurückzukehren. Zwischendurch hat sie mit dem Gedanken geliebäugelt, in der Sowjetunion zu bleiben, doch ihr Herz gehört Wien. Der Sowjetunion und später Russland bleibt sie aber zeit ihres Lebens verbunden, und sie verfolgt die politischen Entwicklungen in dieser Region der Welt stets mit besonders grossem Interesse.

Das Wien, das Lotte bei ihrer Ankunft im Sommer 1933 antrifft, ist ihr fremd geworden. Die Kommunistische Partei ist verboten, die Sozialdemokratie zurückgedrängt. Die Nazis demonstrieren ihre Haltung ganz offen. Die Arbeiter warten auf ein Zeichen zum Aufstand gegen die austrofaschistische Dollfuss-Regierung. Der bricht im Februar 1934 aus, als der republikanische Schutzbund verboten wird und die faschistische Heimwehr versucht, ihn zu entwaffnen. Mehr als 200 Schutzbündler werden getötet, viele in Lagern gefangen gesetzt und mehrere gehängt.

Lotte lebt zu diesem Zeitpunkt bei ihren Eltern und beteiligt sich an den illegalen Aktivitäten ihrer Partei. Sie wird Verantwortliche für die Bildungsarbeit im Kommunistischen Jugendverband. Ende 1934 trifft sie Hermes, der ständig unterwegs ist, in Prag. Dort überträgt ihr die Partei die Redaktion der Zeitung "Proletarierjugend", die in mehreren tausend Exemplaren nach Österreich geliefert wird und in Prag auch an den Zeitungsständen erhältlich ist.

Im Februar 1935 kehren Lotte und Hermes nach Wien zurück. Noch im selben Jahr reisen die beiden an einen Kongress der Kommunistischen Jugendinternationale nach Moskau. Die Zeit danach nutzt Lotte für einen Erholungsurlaub auf der Krim und den Besuch bei ihrem Bruder Jula, der mit seiner Frau Mitzi in die Sowjetunion übergesiedelt ist. Er wird im 2. Weltkrieg als Soldat der Roten Armee fallen.

Bei ihrem Bruder erreicht sie die niederschmetternde Nachricht, dass ihre Eltern verhaftet worden sind, offensichtlich wegen Lottes konspirativer Aktivitäten. Bernhard und Eugenie Bindel sitzen über ein Jahr im Gefängnis. Die Mutter, eine Diabetikerin, liest eine Tuberkulose auf und stirbt kurz nach der Freilassung im Alter von 51 Jahren. Der Vater wird nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland nach Theresienstadt und von dort nach Auschwitz deportiert, wo er ermordet wird.

Weil das Pflaster in Wien für Lotte zu heiss geworden ist, zieht sie wieder nach Prag. Im Frühling 1936 organisiert sie eine Konferenz für junge Kommunisten, die während des Anlasses von Gendarmen verhaftet werden, inklusive Lotte. Argwöhnische Nachbarn haben sie angezeigt; sie vermuteten ein Treffen von sudetendeutschen Nazis. Lotte bleibt vier bis fünf Monate im Gefängnis und sinnt verzweifelt darüber nach, warum sie nicht wie die anderen nach kurzer Zeit frei gelassen wurde. Als sie den Grund erahnt, kommt "die Bindelova" mit einer kleinen "Inszenierung" rasch frei. Ein Untersuchungsrichter, des Deutschen kaum mächtig, hatte sie aufgrund eines Artikels, den man in ihrer Wohnung fand, als deutsche Kriegshetzerin verdächtigt. Auf seinen Irrtum hingewiesen, begnügt er sich aber nicht mit einer Freilassung, sondern weist Lotte aus dem Land aus. Sie darf wählen und entscheidet sich für Polen. Dank Bestechung gelingt es ihr, an der Grenze freizukommen und zu einem Bruder von Hermes nach Bratislava zu flüchten. Dort findet sie heraus, dass ihr Geliebter eine neue Freundin hat. Trotzdem schafft sie es noch nicht, ihn loszulassen.

Im Winter 1936 lernt sie den Zürcher Lehrer Fred Hümbelin, ihren künftigen Ehemann kennen. Er holt sie im Auftrag der Partei vom Bahnhof ab, als sie für einen Erholungsurlaub in die Schweiz fährt. Sie schreibt: "Als der Zug im Zürcher Bahnhof einfuhr, sah ich aus dem Fenster und erblickte sofort einen Mann mit einer Pfeife in der Hand, aus der er von Zeit zu Zeit bedächtig einen Zug nahm. Diese Ruhe, diese Bedächtigkeit gefielen mir. Der Mann flösste mir sofort Vertrauen ein."

Bis die beiden zusammenkommen, dauert es aber noch eine Weile. Vorerst wird Lotte zusammen mit ihrer Freundin Gerti von der Partei nach Paris geschickt, wo sie österreichische und tschechische Freiwillige auf dem Weg in den spanischen Bürgerkrieg betreut. Am Abend schreibt sie Briefe. Die Liebesbriefe richtet sie nicht mehr nur an Hermes, sondern auch an Fred.

Als Hitlers Armee im März 1938 in Wien einmarschiert, freudig begrüsst von einer grossen Menschenmenge, ist Lotte bereits seit einiger Zeit wieder in Wien. Zusammen mit Hermes schaut sie aus einem Kaffeehaus dem Geschehen auf der Strasse ohnmächtig zu. Es sind ihre letzten Tage mit Hermann Köhler. Sie sieht ihn danach zwar noch einmal in Zürich, aber die Beziehung ist definitiv zerbrochen. Hermes stirbt im 2. Weltkrieg. 1942 erhält er von Moskau den Auftrag, mit der Untergrundbewegung und der Partei in Österreich in Verbindung zu treten. Als er in der Nähe von Wien mit einem Fallschirm abspringt, wird er von der Gestapo gefangen genommen, brutal gefoltert und dann im KZ Buchenwald erschossen.

Österreichs Anschluss an Hitlerdeutschland löst eine grosse Fluchtwelle aus. Juden und Jüdinnen, Kommunisten, Sozialisten versuchen sich – vornehmlich in der Schweiz – in Sicherheit zu bringen. Auch Lotte entschliesst sich, zu Fred in die Schweiz zu flüchten. Im Mai 1938 ist es so weit.

Doch bis Lotte in der Schweiz definitiv eine neue Heimat findet, muss sie noch einen Umweg über England machen und durch ein Hintertürchen wieder zurückkommen. Die Schweiz nämlich bekundet Null Interesse, ihr Asyl zu gewähren. Auch ihre persönliche Vorsprache beim Chef der Bundespolizei in Bern fruchtet nichts. Heinrich Rothmund, Herr über die Einwanderung, ist auf diesem Ohr taub. Immerhin: Mit dem Vollzug der Ausweisung wartet die Polizei so lange zu, bis Lotte ein Visum für England organisiert hat. Dort schlägt sie sich ein halbes Jahr lang als Haushalthilfe und Kindermädchen durch, bis sie am 21. Juli 1939 auf dem Standesamt in London Fred Hümbelins Frau und somit automatisch Schweizerin wird. Nach einem unruhigen Leben findet sie endlich Geborgenheit und – laut eigenen Worten – eine "seelische Heimat".

In der Schweiz schliesst sich Lotte – das ist für sie Ehrensache – der Kommunistischen Partei an, die 1940 verboten wird und 1944 als Partei der Arbeit wieder aufersteht. "Die Schweizer Kommunisten kamen mir eher zahm vor", merkt sie später in einem Interview an. Für jemanden, der die Parteiarbeit unter schwierigsten und gefährlichsten Umständen kennt, kein Wunder. Weil Lotte und Fred an geheimen Treffen der verbotenen Partei teilnehmen, erhalten sie gelegentlich Besuch von der Sicherheitspolizei und sitzen auch mal für ein paar Stunden in Haft.

1941 bringt Lotte ihren Sohn Karl, liebevoll "Karli" genannt, zur Welt. Er bleibt, neben den zwei Stiefkindern Rösli und Robert, ihr einziges Kind.

Von Januar 1944 bis Juli 1947 arbeitet Lotte Hümbelin als Fürsorgerin beim Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen. Sie amtet dort als Vermittlerin zwischen Flüchtlingen, Fremdenpolizei und Ämtern. Hin und wieder holt sie kranke Flüchtlinge aus den Lagern und sucht für sie mit Hilfe des Büros von Flüchtlingspfarrer Paul Vogt private Unterkünfte. Das Arbeitszeugnis bestätigt ihr, eine "Fürsorgerin von ausgezeichnetem Format und bester Sachkenntnis" gewesen zu sein.

Von 1946 bis 1950 sitzt Lotte als PdA-Vertrerin in der Kreiskommission 6 der Armenpflege der Stadt Zürich, wo sie ihr Interesse für soziale Fragen weiterverfolgen kann. Fred Hümbelin zieht für dieselbe Amtsperiode in den Gemeinderat ein. Sein Engagement in der kommunistischen Bewegung hat zur Folge, dass ihn die Lehrerkollegen im Schulhaus schneiden und er aus dem Lehrerverein ausgeschlossen wird. 1951 versucht ihn die Zentralschulpflege sogar abzuwählen, hat jedoch die Rechnung ohne die Schülerinnen und Schüler samt ihren Eltern gemacht. Die organisieren eine breite Protestaktion und setzen durch, dass ihr Lehrer bleiben darf.

Anfangs der 50er-Jahre erhält Lotte von der PdA den Auftrag, eine Frauenvereinigung aufzubauen. Sie findet einige zugriffige Mitstreiterinnen aus verschiedensten Kreisen und gründet zusammen mit ihnen 1952 die Schweizerische Frauenvereinigung für Frieden und Fortschritt, kurz SFFF. Die Arbeit in dieser Gruppe, die für die Erhaltung des Friedens, die Einführung des Frauenstimmrechts und ein tiefes AHV-Alter für Frauen kämpft, wird fortan der Mittelpunkt ihres politischen Lebens.

Der Ungarnaufstand 1956 verstärkt die antikommunistische Hetze der Nachkriegszeit. Die Mitglieder der PdA werden nach Strich und Faden fertig gemacht, nicht wenige verlieren ihre Stelle. Auch Lotte und Fred erhalten Tag und Nacht anonyme Telefonanrufe mit Beschimpfungen. Viele Frauen treten aus der SFFF aus, was deren Untergang bedeutet. Lottes Fiche aus dieser Zeit verzeichnet, dass Frau Hümbelin in der Partei eine Auseinandersetzung mit den Fehlentwicklungen in der Sowjetunion angeregt habe. Die Genossinnen und Genossen gehen nicht darauf ein. Lotte, der schon in Moskau und angesichts der Begleitumstände von Stalins Tod gewisse Zweifel gekommen sind, zieht sich aus dem Parteileben zurück. Aus Solidarität mit den Genossinnen und Genossen, die ihr Leben im Widerstand und im Konzentrationslager verloren haben, bleibt sie aber weiterhin passives Mitglied. Und sie beginnt, für den "Vorwärts" Theaterkritiken zu schreiben, die von den Leserinnen und Lesern sehr geschätzt werden.

Anfangs der 60er-Jahre beschliesst Lotte, an der Uni Zürich Heilpädagogik zu studieren. Nach drei Jahren legt sie mit ihren mehr als 50 Jahren die beste Abschlussprüfung hin. Danach arbeitete sie lange Jahre als Einzeltherapeutin für die heilpädagogische Beratungsstelle der Universität Zürich.

1967 reist sie mit Fred zum dritten Mal in die Sowjetunion. 50 Jahre nach der Revolution trifft sie dort, wie sie schreibt, "eine gedrückte Stimmung, eine völlige Gleichgültigkeit und einen starken Antisemitismus" an. Ebenfalls in dieser Zeit kommt ihr Stiefsohn Robert mit seiner Frau beim Absturz einer Chartermaschine vor Nikosia ums Leben. Fred braucht lange Zeit, um diesen Tod zu verkraften.

Ende der 70er-Jahre erkrankt Fred an Nierenkrebs. Mehrere Jahre lang ist er bettlägerig und wird von Lotte und ihrer Haushälterin Alberta Urso zuhause gepflegt. 1986, er ist 90 Jahre alt, stirbt er. Kurz darauf erkrankt Lottes Sohn Karl an einem Hirntumor, dem er Jahre später erliegt. Lotte ist über den frühen Tod ihres Sohnes untröstlich.

Letzten Sonntag ist sie Karl und Fred gefolgt.