Mein eigener Kopf

Buch

Huembelin.jpg

Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

352 Seiten

CHF 24.00, EUR 24.00

ISBN: 978-3-85990-003-5


7 Rezensionen

Autobiografien sind eine der interessantesten Formen der Geschichtsschreibung. Umso mehr, wenn sie so lebendig und fesselnd geschrieben sind wie die von Charlotte Hümbelin-Bindel, einer Wiener Jüdin, die 1939 als Flüchtling und Ehefrau eines Schweizers nach Zürich kam und seither dort lebt. Fünf Jahre vor dem Ersten Weltkrieg in der Wiener Leopoldstadt auf die Welt gekommen, lässt die Autorin das damalige jüdische Viertel der österreichischen Metropole plastisch auferstehen. Ebenso authentisch beschreibt sie das ländliche Leben ihrer Familie mütterlicherseits in einem ungarischen Dorf nahe der österreichischen Grenze.

Als Jugendliche schliesst sich Lotte der kommunistischen Partei an. 1931 folgt sie ihrem damaligen Lebenspartner nach Moskau, wo sie zwei Jahre als Verlagslektorin arbeitet, bedeutende Figuren der kommunistischen Parteien Europas kennen lernt und die Vorkriegszeit unter Stalin miterlebt. 1933 kehrt sie nach Wien zurück und führt nach dem Verbot der Partei im Sog des nationalsozialistischen und austrofaschistischen Vormarsches ihre politischen Aktivitäten im Untergrund fort. Von 1934 bis 1936 lebt sie Prager Exil. Im Winter 1936/37 kommt sie in die Schweiz und lernt dabei ihren späteren Mann Fred Hümbelin kennen, auch er ein politischer Aktivist. In

Paris betreut sie österreichische und tschechische Spanienkämpfer. Nach Wien zurückgekehrt, flüchtet sie nach dem Anschluss Österreichs an das Hitlerreich 1938 in die Schweiz und stellt ein Asylgesuch. Die Antwort der offiziellen Schweiz ist ein Paradebeispiel für die damalige Flüchtlingspolitik: ihr Asylgesuch wird mit der Begründung „Überfremdung“ abgelehnt.

Nach ihrer Wegweisung begibt sich Lotte Hümbelin nach London und arbeitet als Köchin. Sie heiratet Fred Hümbelin, worauf ihrer Einreise in die Schweiz nichts mehr im Weg steht. Als Führungsmitglied der Partei der Arbeit erlebt sie dann die Höhen und Tiefen der ehemaligen kommunistischen Partei der Schweiz, insbesondere die politische Repression gegen deren Angehörige.

Lotte Hümbelins Biografie ist ein Stück Weltgeschichte in den bewegtesten Zeiten dieses Jahrunderts, erlebt aus einer Perspektive, die noch viel zu wenig aufgearbeitet ist und doch den meisten Menschen näher liegt als jene der bedeutenden Männer dieser Welt.

Das Buch ist illustriert mit zeitgenössischen Fotos. Mit Kurztexten werden die behandelten Zeitepochen erklärt, und Anmerkungen geben Auskunft zu Personen und Namen.

Rezensionen

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Zeugin des Jahrhunderts

Informationen des Studienkreises Deutscher Widerstand / März 2000

Am 22. Januar 2000 beging Lotte Hümbelin-Bindel in Zürich ihren 91. Geburtstag. Wenige Monate zuvor erschien ihr Buch "Mein eigener Kopf". Wiederholt hatten Historiker versucht, biographische Texte über diese Frau zu publizieren. Stets war dies von ihr abgelehnt worden. Selbst hat sie vor ungefähr zehn Jahren begonnen, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, die ausschliesslich für den Sohn und die Enkelkinder bestimmt sein sollten. Es ist das Verdienst der "Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung" in Zürich, dass dieses Manuskript nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich wurde.

Im Zentrum des Buches stehen die ersten drei Jahrzehnte ihres Lebens (1909-1939). Im ersten Teil werden sehr anschaulich Kindheit und Jugend im Wiener Bezirk Leopoldstadt, dem jüdischen Viertel der österreichischen Metropole, geschildert. Das folgende Kapitel gibt Einblick in die Motive des Anschlusses der Gymnasiastin an die Arbeiterjugendbewegung - zunächst an die Sozialistische Arbeiterjugend und später an den Kommunistischen Jugendverband. Wesentlichen Einfluss auf ihr Leben hat die Beziehung zu Hermann Köhler, dem damaligen Vorsitzenden des KJVÖ und späteren leitenden Funktionär der KPÖ. Lotte Bindel übernimmt selbst frühzeitig Aufgaben im Zentralkomitee des Jugendverbands. Mit Hermann Köhler geht sie 1931/32 nach Moskau. Während er bei der Kommunistischen Internationale tätig ist, arbeitet sie als Redakteurin beim Verlag für ausländische Literatur. Ab Mitte 1933 gehört die junge Frau in Wien zu den Organisatoren des antifaschistischen Widerstands. In den nächsten Jahren wird das Prager Exil zur Hauptwirkungsstätte. 1937 ist die 28-jährige in Paris, sie unterstützt österreichische und tschechoslowakische Interbrigadisten, die auf dem Weg nach Spanien sind. Es schliessen sich Monate der Illegalität in Wien an, dort, wo es im Widerstand gelang, die Spaltung der Arbeiterbewegung teils zu überwinden.

Die Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland zwingt Lotte Bindel zur Flucht, zeitweilige Aufnahme bietet die Schweiz. In Grossbritannien findet die Ausgewiesene später Zuflucht. Erst dadurch, dass der bekannte Schweizer Kommunist Alfred Hümbelin sie am 21. Juli 1939 in London heiratet, kann sie nach Zürich zurückkehren. Mit der Schilderung dieser Ereignisse endet ihre Darstellung. Einblick in das Leben von Lotte Hümbelin zwischen 1940 und 1999 gibt im 5. Teil ein Interview, das Jeannine Horni mit ihr führte.

Das Buch berührt den Leser stark. Es ist kein historischer Bericht, sondern die Wiedergabe von Erlebnissen und Wertungen einer Frau, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts mitgeschrieben hat. Lotte Hümbelin lernte viele interessante Menschen kennen. Die meisten ? so auch den grössten Teil ihrer Familie ? verlor sie früh durch den brutalen Terror des Hitlerfaschismus gegen die Juden und gegen die kommunistische Widerstandsbewegung. Andere Freunde wurden Opfer der stalinistischen "Säuberungen" in der UdSSR.

Insgesamt ist es ein sehr nachdenklich stimmendes Buch, dem viele Leser zu wünschen sind.

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Lotte Hümbelins Leben

Max Bächlin / Vorwärts / 19.11.99

Den älteren Vorwärts-Leserlnnen ist die jetzt 90-jährige Lotte Hümbelin vielleicht bekannt als ehemaliges sehr aktives Mitglied der Zürcher PdA, als Gattin des im Kalten Krieg heftig umstrittenen Lehrers Fred Hümbelin oder als langjährige Theaterkritikerin im Vorwärts.

Nach der Erschütterung von 1956 (Ungarn) zog sie sich aus der aktiven Parteiarbeit zurück, ist aber zahlendes Mitglied bis heute geblieben. Nach dem Erwerb des Diploms für Heilpädagogik arbeitete sie während einiger Jahrzehnte auf diesem Beruf.

Was nun unter dem Titel "Mein eigener Kopf" vorliegt, ist keine Autobiographie im üblichen Sinne. Sie besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen: Im ersten Teil, fast 300 Seiten stark, schildert Lotte Hümbelin den ersten, sehr bewegten Drittel ihres Lebens, die Jahre von 1909 bis 1939. Ihre Aufzeichnungen waren nicht zur Publikation bestimmt, sondern zur Lektüre für ihren Sohn und ihre Enkel (das Manuskript liegt in der Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung auf). Der zweite Teil, nur etwa 30 Seiten umfassend, gibt einen knappen Überblick über die restlichen zwei Drittel ihres Lebens, das sie von 1939 bis heute in Zürich verbringt. Dabei handelt es sich um Aufzeichnungen von Gesprächen, die Jeannine Horni in diesem Frühjahr mit Lotte Hümbelin führte.

Es ist der erste Teil, der das Buch zu einer wertvollen historischen Quelle über die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts macht, indem es einen Beitrag zur "Geschichte von unten" liefert. Lotte Hümbelin erzählt sehr eindrücklich und mit vielen Einzelheiten, wie sie als Kind das armselige Judenviertel Wiens erlebte und wie sie sich später als junge, engagierte Kommunistin teils im Rahmen der Legalität, teils im Untergrund für die Ziele ihrer Partei einsetzte. Wie sie sagt, wollte sie keine Parteigeschichte schreiben, sondern die Ereignisse so schildern, wie sie sie als politisch unerfahrene junge Frau damals erfuhr. Das schliesst nicht aus, das sie hin und wieder Bezug nimmt aus Erkenntnissen, die sie erst in späteren Jahren gewann. Auch bei ihren Kollegen und Freundinnen, mit denen sie damals zusammen lebte oder arbeitete, wirft sie immer wieder einen Blick auf deren späteres Schicksal; manche ihrer Kampfgefährtinnen gingen in SS-Folterkellern und in Konzentrationslagern zugrunde, und von ihren jüdischen Verwandten überlebten nur wenige den Holocaust - auch ihr Vater kam in Auschwitz um. Sie selbst kam trotz teilweise riskanter Aktionen glimpflich davon. Den Beschwerden und Gefahren des Exils machte der Zürcher Fred Hümbelin (1896-1986), mit dem sie sich während ihres kurzen Aufenthalts in der Schweiz angefreundet hatte, ein Ende, indem er sie kurz vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges in London heiratete und anschliessend mit ihr nach Zürich kam. Dank ihres erstaunlichen Gedächtnisses kann die zur Zeit der Niederschrift etwa 80 Jahre alte Grossmutter ihren Enkeln von ihrer Kindheit in Wien und während den Ferien im ungarischen Heimatdorf ihrer Mutter ein überaus lebendiges, anschauliches Bild vermitteln.

Von 1931 bis 1933 arbeitete Lotte Hümbelin in Moskau als Verlagslektorin und machte dabei viele für sie wichtige Erfahrungen. Anschliessend an zwei Jahre Exil in Prag betreute sie im Auftrag der Partei in Paris österreichische und tschechische SpanienkämpferInnen. Da ihr nach 1938 ein Asyl In der Schweiz verweigert wurde, suchte sie Zuflucht in England, wo sie in London bei mehreren Familien als Hausangestellte arbeitete, bis dann mit ihrer Heirat und Niederlassung in Zürich ein neues Leben begann: gleichförmiger, weniger dramatisch, wenn auch während des Kalten Krieges nie ohne Erschütterungen.

Das gediegen aufgemachte, mit vielen zeitgenössischen Fotos illustrierte Buch verdankt sein Zustandekommen dem jungen, unabhängigen Verlag edition 8.

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Die Vergangenheit nicht als Fehler verurteilt

Mitteilungen der Alfred-Klahr-Gesellschaft / 4/1999

In wenigen Wochen wird die Autorin Lotte Hümbelin-Bindel 91 Jahre. Der Grossteil ihrer ZeitgenossInnen weilt nicht mehr unter den Lebenden.
In diesem Buch erinnert sie sich an ihre Jugend in Wien-Leopoldstadt, wo ihre Eltern, aus verschiedenen Teilen der Monarchie kommend, sich angesiedelt hatten. Sie wohnte dort, wo viele dieser verarmten, teils proletarischen, teils kleinbürgerlichen Juden damals lebten, bevor sie unter den Nazis zum Grossteil vernichtet wurden.

Lotte Bindels Politisierung erfolgte in ihrer Mittelschulzeit in der SAJ. Sie erinnert sich an ihren Freund Walter Wodak, den sie Jahrzehnte später als österreichischen Botschafter in Moskau wieder treffen sollte, vor allem aber an ihre Zeit im Kommunistischen Jugendverband, der in Wien 2, Blumauergasse sein Arbeiterheim hatte, wo Arnold Reisberg, Alfred Klahr, Arnold Deutsch oder Franz Quittner politisch aktiv waren. Zu ihrem Freundeskreis zählten Friedl Fürnberg, Friedrich Hexmann, Alfred Rabofsky u.a.

In der zweiten Hälfte der 20er-Jahre beginnt ihre Freundschaft mit Hermann Köhler ("Hermes"), mit dem sie dann 10 Jahre zusammengelebt hat, wenngleich durch seine vielfältigen Tätigkeiten dieses Zusammenleben sehr beschränkt war. Man erfährt bisher noch nicht bekannte Details über dessen politische Aktivitäten, seine Arbeit im Auslandsapparat der Komintem, über seinen Aufenthalt Anfang der 30er-Jahre in Moskau, seinem illegalen Leben in Wien, u.v.a.m.
Lotte Bindel, die zeitweise auch seine engste Mitarbeiterin war und Anfang der 30er-Jahre in Moskau im Verlag für Ausländische Literatur arbeitete, gehörte in der Illegalität zur Redaktion des Organs des KJV, der "Proletarier-Jugend", die in der zweiten Hälfte der 30er-Jahre in Prag hergestellt (dort auch legal verkauft werden konnte) und nach Österreich geschmuggelt wurde, und war Mitglied des ZK des KJV.

In Paris arbeitete sie 1937/38 mit ihrer langjährigen Freundin Gerti Schindel im so genannten Spanienapparat, der die Freiwilligen betreute, die über Paris nach Spanien gingen. 1938 geht sie in die Schweiz, wo sie unter anderen Axl Leskoschek kennen lernt, mit dem sie bis zu seinem Tod in Verbindung blieb, und findet, nach ihrer Trennung von Köhler, einen Lebensgefährten. Ihr Versuch, in der Schweiz als Exilantin leben zu können, scheiterte, und so geht sie nach England. Mitte 1939 heiratet sie in London ihren Mann, mit dem sie in die Schweiz zurückkehrt. Beide sind politisch aktiv, gehören zu den AktivistInnen der Partei der Arbeit in der Schweiz, wobei ihr Mann als Lehrer im Kalten Krieg heute kaum mehr vorstellbaren Schikanen ausgesetzt war.

Wenn auch Lotte Hümbelin-Bindels kritische Einschätzungen mancher politischen Entwicklungen vornimmt und im Rückblick die "Gläubigkeit", mit der viele damals agierten, kritisiert, so fällt es ihr nicht ein, das Vergangene, das, wofür sie und zahlreiche andere GenossInnen kämpften und - nicht zuletzt ihr Jugendfreund Hermann Köhler - ihr Leben liessen, als Fehler einzustufen. Darin unterscheidet sich ihr Buch wohltuend von jenen Werken, die man ja zur Genüge kennt.

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Lebenszeugnis für ein Österreich des Widerstands

Waltraud Seidel-Höppner / Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung / 1/2000

Den Anspruch auf eigene Ansichten erfüllt sich keiner risikolos, nie und nirgends. Für eine sensible, kluge Frau, Kommunistin und Jüdin zudem, inmitten der Kämpfe des 20. Jahrhunderts, muss ein eigener Kopf geradezu als halsbrecherische Luxusausstattung gelten. Um dem Kugelhagel der Polizei vor dem Wiener Parlament im Sommer 1927 heil zu entkommen, um den Repressalien der anbrechenden Stalinära im Moskau der dreissiger Jahre zu entrinnen, um 1938 in Wien als Herausgeberin des illegalen Informationsblatts von Franz Marek rechtzeitig dem Zugriff der Gestapo zu entwischen und alle Grauen der Mordzeit zu überleben, die Eltern, Verwandte, Freunde und Kampfgefährten verschlang, brauchte Lotte Hümbelin viel Glück. An der Neige ihrer Tage blickt die Neunzigjährige zurück auf ihre Kindheit im Wien blutiger Klassenkämpfe, auf ihren publizistischen Einsatz im antifaschistischen Widerstand der österreichischen Jugendbewegung, auf ihre Erfahrungen im Moskau von 1931, 1935 und 1967, auf die Exiljahre 1934/36 in Prag, auf die Betreuung der Spanienkämpfer im Paris von 1936/37, auf die Zeit illegalen Widerstands in Österreich, schliesslich auf das triste Exil in England nach ihrer Ausweisung aus der Schweiz, wo sie nach 1939 als Frau des kommunistischen Schweizer Pädagogen Fred Hümbelin endlich Wurzeln schlagen konnte. Über die 60 Jahre in ihrer Wahlheimat seit 1940, ihre Erlebnisse in der KP, in der Partei der Arbeit während der schlimmen Zeit des Kalten Kriegs und über ihre Erfahrungen als Mitbegründerin und Präsidentin der unabhängigen Frauenorganisation für Frieden und sozialen Fortschritt und ihre zwiespältigen Eindrücke von einem Internationalen Frauentag in der DDR im Jahre 1954 gibt sie Auskunft in einem Interview mit Jeannine Horni im letzten Teil des Buches.

Es ist ein redlicher Rückblick auf ein von den politischen Umbrüchen dieses Jahrhunderts zerklüftetes Leben; ungeachtet ihrer Tuchfühlung mit etlichen Namhaften der Komintern ohne Egozentrik und Eitelkeit, auch ohne politische Selbstverleugnung. Dass etwas anderes herauskam als das Gewollte, entwertet in ihren Augen nicht das Gewollte; und dass die himmelstürmenden Hoffnungen der jungen Jahre unerfüllt blieben, hat in ihrer Sicht das Mühen um eine humanere Welt nicht sinnlos gemacht. Schonungslos, doch ohne Beckmesserei, analysiert sie Versäumnisse und Mängel, die eigenen ebenso wie die ihrer Kampfgefährten. Der arge Weg der Erkenntnis aller Akteure ist eingewoben in die Dramatik der Epoche: "Ich kann nicht, wie (Manès) Sperber, unseren Glauben der vergangenen Zeit, unser ganzes Tun und Lassen verurteilen. Noch viel weniger die zahlreichen Menschen reinen Herzens, die ich kennen gelernt habe ... Tausende von Kommunisten haben ... ihr Leben hingegeben, nicht weil sie eine Diktatur über das Volk anstrebten, sondern weil sie den Sozialismus, die freie Entwicklung des Menschen verwirklichen wollten. Unsere Schwächen, Fehler und Irrtümer sind aus der Begrenzung unserer Zeit, aus unseren eigenen Begrenzungen zu verstehen."

Über das Biographische hinaus ruft dieses Lebenszeugnis ein Österreich des Widerstands in das öffentliche Bewusstsein, das hinter dem fahnenschwenkenden Wien von 1938 zu Unrecht in Vergessenheit geriet. In einer winzigen reinlichen Mietswohnung einer armseligen Wiener Judengasse, die sie mit Eltern und zwei älteren Brüdern teilt, erblickt Lotte Bindel 1909 eine Welt, die alsbald aus den Fugen gerät. Neunjährig erlebt sie im November 1918 die Geburt der krisengeschüttelten Republik. Revolutionäre Ansätze wie Grenzen im sozial- und kulturpolitischen Modell des austromarxistischen "Gemeindesozialismus" im legendären "roten Wien" zwischen 1919 und 1927, das von präfaschistischen Heim- und Wehrbünden als "Steuersadismus" und "Wohnungsbolschewismus" diffamiert und gewalttätig bekämpft wird, beschreibt sie als "gesellschaftspolitisches und kulturelles Epizentrum", als "Brutkasten sozialer Experimente" und als "brodelnden ldeenherd der Republik". Die Ablösung des stockkonservativen Schulregimes Franz Josephs durch eine sozialdemokratisch reformierte Bürgerschule erfährt das phantasie- und sprachbegabte Mädchen als Befreiung von geistiger Unselbständigkeit und als Durchbruch zu einem Schulwesen, in dem demokratische Lehrer Selbstvertrauen, gegenseitige Achtung und "Kraft zum eigenen Denken" fördern. Sozialerfahrung und demokratische Mitgift wappnen sie früh gegen Nationalismus, auch den des Zionismus, der ihr im bürgerlichen Milieu des Gymnasiums begegnet: "Die sozialen Unterschiede schienen in meinen Augen wesentlicher."

In der Sozialistischen Arbeiterjugend erlebt sie eine "Mimikry" der internationalen Fehden zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, "die einander wütender bekämpften als den Klassengegner". Präzise umreisst sie die "bittere Tragödie" der österreichischen Arbeiterbewegung: das Scheitern der legalen Strategie der SDAPÖ, ihren Mangel an Klarsicht trotz hervorragender Theoretiker, ihr politisches Versagen trotz grossartiger kommunalpolitischer Kapazitäten und tüchtiger Führer, ihre Scheu vor einem Bürgerkrieg, den sie nicht verhindern konnte, ihren verdienten Masseneinfluss, den sie im verhängnisvollen Jahr 1934 durch politische Blindheit und Führungsschwäche verspielte. Die Kommunisten wiederum, eine Minorität ohne nennenswerten Einfluss, verfügten über straffere Disziplin und im allgemeinen über eine fester gegründete sozialistische Überzeugung und grössere Hingabe; sie erfassten die Gefahr von Faschismus und Krieg mit grösserer Hellsicht, doch bis 1932 verwehrte ihnen die Stalinsche Sozialfaschismusdoktrin, ihre Einsicht politisch umzusetzen. In der österreichischen Partei beobachtet sie zudem, befördert durch die gefährlichen, entbehrungsreichen Bedingungen der Illegalität, wie ein Selbstgefühl einer kleinen "auserlesenen Schar voll Kämpfern gegen alle Ungerechtigkeit der Welt", eine Art quasireligiöses Elitebewusstsein entwuchs, das mit einer "Unschärfe des kritischen selbständigen Denkens" einherging. Gleichwohl fühlt sich die Fünfzehnjährige zum radikaleren kommunistischen Konzept hingezogen, denn es verhiess über kommunale Verbesserungen hinaus "eine neue Welt, einen neuen Menschen". Den Hang ihrer Generation zum Kommunismus erklärt Lotte Hümbelin aus dem Gefühl eines Epochenumbruchs, das alle Hoffnung an Russland heftete, an Lenin, Liebknecht und Luxemburg, die ihren Widerstand gegen Krieg im Gefängnis büssten. Im "fernen Licht aus dem Osten" verblassten die wüsten Fraktionskämpfe und Haarspaltereien, die die kleine österreichische Partei zerrissen.

Die politische Arbeit im Sekretariat des Kommunistischen Jugendverbands ab 1929 beurteilt sie sehr kritisch: sie tadelt die notorische Gängelei des Jugendverbandes durch bejahrte Parteileute, denn der geforderte jugendgemässe politische Stil, "eine den jungen Menschen verständliche lebendige Sprache setzt selbständiges Denken, unverkrampftes Handeln und die Möglichkeit voraus, sich innerhalb der Gemeinschaft ungehemmt und frei zu regen." Sie bemängelt die Schmalspurbildung jener Jahre, die zugunsten der Ökonomie Kenntnisse der Geschichte, insbesondere der Nationalgeschichte, aber auch der Kunst und Literatur vernachlässigte. Verhängnisvoll für die spätere kritiklose Hinnahme der stalinistischen Pervertierung des Sozialismus erscheint ihr die "katechismusartige Denkschulung" des Marxismus, bei der man Marx'/Engels' Schriften, später die von Stalin, "wie heilige Botschaften las, nicht wie wissenschaftliche Texte". Sie gesteht: "Heute sehe ich deutlich, wie viel doktrinäres Denken uns von Anfang an bestimmte. Was wir für feststehende Maximen hielten, wurde schon damals fast täglich von der Praxis überrollt".

Mitte 1931 hängt sie das Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Psychologie in der bereits "von Nazis verseuchten Wiener Universität" an den Nagel und folgt dem Jugendfreund Hermann Köhler, dem Leiter der Kommunistischen Jugendinternationale und zeitweiligen Mitarbeiter Dimitroffs, nach Moskau, wohnt im Lux, dem Domizil der Komintern und arbeitet mit Erich Wendt in einem Verlag an deutschsprachigen Ausgaben russischer Literatur. Zwar widersprach das von Bürgerkriegsleiden gezeichnete "Land der Träume" den schattenlosen Erfolgsberichten der Parteipresse und dem euphemistischen Bild der sowjetischen Belletristik. Anders jedoch als 1967 trifft sie 1931 die Menschen inmitten bitterster Armut voller Hoffnung auf bessere Zeiten, ohne Ausländerneid und Antisemitismus, und ist fasziniert von der reichen Literatur-, Musik- und Theaterkultur. Als Delegierte des österreichischen Jugendverbands hört sie auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 die befreiende Rede Dimitroffs: "Wie man die Differenzen unter Genossen begraben, alle Kräfte vereinigen müsse, um sich gegen den Hauptfeind der Menschheit zu wehren, das lernten wir damals von Dimitroff." Gleichwohl gewahrt sie verwirrt erste Vorzeichen jener Epoche, in der Stalin kaum merklich, aber zielstrebig begann, seinen Machtapparat aufzubauen und durch Repressalien zu sichern: personell durch Ersatz der alten Leninschen Garde durch eine ihm ergebene gehätschelte Funktionärsschicht; theoretisch durch Deformierung des Marxismus zu einer Dogmenlehre; ideologisch durch Drill zu blindem Glauben, Kritiklosigkeit und Personenkult. Ratlos erlebt sie die Abwertung der politischen Rolle Trotzkis und der theoretischen Leistung Rosa Luxemburgs. Beklommen hört sie das Referat Manuilskis über "Wachsamkeit", das ein allgemeines Misstrauen gegen jedermann schürte, das fortab wie eine "schleichende Seuche" die politische Atmosphäre vergiftete und jede Kritik im Keim erstickte.

Lotte Hümbelins Grübeln kreist um die Frage, warum selbst hochintelligente, politisch erfahrene Politiker der Komintern so lange blind blieben für augenfällige Absurditäten der Stalinschen Repression überzeugter Kommunisten. Ihre Rekonstruktion der damaligen Situation hilft manches schwer Begreifliche in diesem dunkelsten Kapitel des Kommunismus besser zu verstehen. Priorität schreibt sie den aussenpolitischen Bedingungen zu, der existenziellen Gefahr für den Sozialismus. Viele Emigranten, dem braunen Albdruck knapp entronnen, suchten Zuflucht und politischen Rückhalt im Land der Oktoberrevolution, dem Zentrum der revolutionären Weltbewegung, dem einzig verlässlichem Bollwerk gegen den Faschismus. Doch das erste sozialistische Land der Welt war von Anbeginn bedroht und international isoliert: "Die Sowjetunion befand sich im Zustand einer belagerten Festung." Unter solchen Bedingungen sahen alle Kommunisten "ihre Hauptaufgabe in der Verteidigung des ersten sozialistischen Experiments in der Welt". Der reale Sozialismus musste verteidigt werden "ohne Wenn und Aber", auch wenn er hinter den Idealen zurückblieb! Bis zu einem gewissen Grade konnte Stalin seine Massnahmen glaubwürdig mit der Gefährdung des Sozialismus rechtfertigen. Es erschien unter solchen Bedingungen so abwegig nicht, dass jede organisierte Opposition zum potenziellen Kristallisationspunkt der Feinde des Sozialismus werden könne.

Die lebensfremde Aneignung des Marxismus, erhärtet durch die Unterbindung jeder öffentlichen Auseinandersetzung, begünstigten die Deformation des Marxismus zu einer Dogmenlehre und erschwerten das Wahrnehmen von Fehlentwicklungen des Sozialismus. Mit solchen theoretischen und politischen Ursachen korrespondierten emotionale Barrieren: man wollte die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht wahrhaben, man mochte sich die Unverträglichkeit der stalinschen Diktatur mit der demokratischen Grundgesinnung und dem emanzipatorischen Gehalt der marxistischen Konzeption nicht eingestehen, zumal nach dem Überfall Hitlers galt die UdSSR als "Garant für eine bessere Welt". Überdies war die sowjetische Wirklichkeit widersprüchlich: der Elan der Industrialisierung war echt; trotz der Unterdrückung freien geistigen Lebens wurde vielerorts Ausserordentliches geleistet. Der nüchterne Blick der Neunzigjährigen auf überschwängliche Hoffnungen und naive Gläubigkeit der jungen Jahre, auf herbe Ernüchterung, auf mühseliges, schmerzhaftes Lösen von eigenem Wunschdenken und Stalinistischen Scheuklappen samt der in die politischen Prioritäten des Zeitalters eingebundenen psychologischen Verfassung und Verhaltensmuster der Akteure übertüncht und verleugnet nichts. Die Bilanz quälender Selbstbefragung vergegenwärtigt, wie mangelhaft eine Generation überzeugter Kommunisten für Irren und Wirren der Stalinära gerüstet war, wie unterschiedlich sie sie erlitt, verdrängte und verarbeitete. Die Aufrichtigkeit des Berichts hilft, vieles Schwerbegreifliche dieser Umbruchszeit besser zu verstehen.

Das Buch enthält im Anhang ein Verzeichnis der Abkürzungen, 63 Kurzbiographien namhafter Vertreter der internationalen Arbeiterbewegung aus dem politischen Umfeld der Autorin, dazu Personenregister und Bildnachweis.

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Das Nachdenken darüber, wie Stalin allmächtig werden konnte

Waltraud Seidel-Höppner / Neues Deutschland / 17.3.2000

Die Erinnerungen der Lotte Hümbelin - ein Leben zwischen Wien und Moskau

Eine warmherzige, feinsinnige, kluge Frau blickt zurück auf ihr von diesem brüchigen Jahrhundert zerklüftetes Leben: grundehrlich, fragend, selbstkritisch, ohne Egozentrik. In Weltliteratur und Politik zu Hause, konnte sie lange kein Zuhause finden: Weder in ihrer Familie, in einem armseligen Wiener Judenviertel, wo sie 1909 eine Welt erblickt, die bald darauf aus den Fugen gerät, noch in der halbherzig erwiderten Jugendliebe eines Jahrzehnts; nicht im Prager Exil, wo sie 1934 die Monatszeitschrift des österreichischen Jugendverbands Proletarierjugend redigiert, monatelang inhaftiert und 1936 ausgewiesen wird. Auch im stalinistisch infizierten Moskau der dreissiger Jahre kann eine Kommunistin schwer heimisch werden, die zu bewährten Freunden hält, die als Opportunisten gebrandmarkt wurden. Die Betreuung österreichischer und tschechischer Spanienkämpfer im Paris von 1936/37 endet mit der Niederlage der Republikaner. 1938 illegal in Wien, redigiert sie das Informationsblatt Franz Mareks und entkommt im Mai dem Zugriff der Gestapo in die Schweiz; hier erhält sie als jüdische politische Emigrantin mit falschem Pass einen Vorgeschmack moderner Flüchtlingspolitik. Ende 1938 abermals ausgewiesen, verhilft ihr die Londoner Austrian Self Aid zu einem englischen Einreisevisum als Hausangestellte, doch unter den saturierten Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionären der britischen Insel fühlt sie sich fremd. 1939 heiratet sie in London den kommunistischen Schweizer Pädagogen Fred Hümbelin und findet in der glücklichen Partnerschaft mit ihm endlich die ersehnte Geborgenheit Auch die hat ihre Tücken. Während des kalten Kriegs, zumal nach 1956, nimmt der Antikommunismus in der Schweiz faschistoide Züge an: Mitglieder der 1940 verbotenen KPS und der Partei der Arbeit müssen jahrelang mit Telefonterror, öffentlicher Verunglimpfung, Entlassungen und Berufsverboten leben, auch die Hümbelins mit ihren drei Kindern.

Während des Kriegs hatte Lotte Hümbelin in Zürich jüdische Flüchtlinge betreut; nach Kriegsende engagiert sie sich in der Frauenbewegung. Im Herbst 1952 ist sie Präsidentin der unabhängigen Schweizer Frauenorganisation für Frieden und sozialen Fortschritt. Der Ungarnaufstand zerbricht ihre trotz früher Ernüchterung bis 1956 währende starke Bindung zur Sowjetunion. In der PDA allerdings werden ihre innerparteiliche Kritik an der theoretischen und politischen Sterilität der Partei, ihre Forderungen nach ernsthafter Diskussion über eigene Wege und nach Auseinandersetzung mit Fehlentwicklungen in der SU von der Parteileitung brüsk zurückgewiesen. Politisch vereinsamt, schreibt sie fortan Theaterkritiken für den Vorwärts, nimmt ihr 1931 abgebrochenes Studium wieder auf und widmet fortan ihr Wissen und Können als Heilpädagogin verhaltensgestörten Kindern.

Mehr als diese kargen Eckdaten sagen uns Heutigen die überlieferten Erfahrungen und Einsichten. Der nüchterne Blick der Neunzigjährigen auf Irrungen und Wirrungen der jungen Jahre verleugnet und übertüncht nichts, weder himmelstürmende Hoffnung, die sich nur widerwillig vom Wunschdenken löst, noch naive Gläubigkeit, die aufkeimende Zweifel verdrängt. Erste politische Erfahrungen sammelt bereits die Zehnjährige. In der Wiener Bürgerschule, wo demokratische Lehrer erstmals Selbstvertrauen, gegenseitige Achtung und Kraft zum eigenen Denken fördern, erlebt sie den Bruch der sozialdemokratischen Schulreform mit dem Drillregime Franz Josephs. Eindrucksvoll beschreibt sie das legendäre rote Wien als brodelnden Ideenherd der Republik. Heute wie damals schätzt sie die hervorragenden Leistungen der austromarxistischen Sozialdemokratie, ihre Theoretiker wie ihre Kommunalpolitiker, und ihren verdienten Einfluss unter Arbeitern und Intellektuellen. In der Sozialistischen Arbeiterjugend erlebt die Gymnasiastin en miniature die internationalen Fehden zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, die einander wütender bekämpften als den Klassengegner. Sie vergegenwärtigt die bittere Tragödie der österreichischen Arbeiterbewegung: einerseits das Scheitern der legalen Strategie der sozialdemokratischen Führung, die ihren Masseneinfluss gegen den Staatsstreich des Dollfussregimes, die Verfolgung der Arbeiterbewegung und den erstarkenden Faschismus nicht nutzte aus Scheu vor einem Bürgerkrieg, der trotzdem ausbrach; andererseits die Ohnmacht der Kommunisten, einer disziplinierten Minorität, ohne Masseneinfluss, klarsichtiger zwar für die heraufziehende Gefahr von Faschismus und Krieg, doch in der Stalinschen Sozialfaschismusversion gefangen, die ihr verwehrte, ihre Einsicht rechtzeitig politisch umzusetzen. Was die damals Fünfzehnjährige gleich andern unwiderstehlich zum radikaleren kommunistischen Konzept hinzog, war eine Art Endzeit-Gefühl eines Epochenumbruchs, dem der Kommunismus besser entsprach als der Gemeindesozialismus der SPÖ, denn er wies in eine neue Welt, die in Russland Gestalt annahm. Hinter dem fernen Licht aus dem Osten verblassten die wüsten Fraktionskämpfe und Haarspaltereien in der kleinen österreichischen Partei.

1931 folgt sie dem Jugendfreund nach Moskau, wohnt mit ihm im Lux, dem Domizil der Komintern, und hat reichlich Tuchfühlung mit namhaften Vertretern der internationalen Arbeiterbewegung. Das von Bürgerkriegsleiden gezeichnete Land der Träume freilich widersprach den schattenlosen Erfolgsberichten der Parteipresse, auch dem euphemistischen Bild der sowjetischen Belletristik. Dennoch findet sie - anders als bei ihrem späteren Besuch 1967 - die Menschen inmitten bitterster Armut voller Hoffnung und im Kontrast zur materiellen Entbehrung ein überschäumendes, vielseitiges Kulturleben. Als Delegierte des österreichischen Jugendverbandes hört sie 1935 auf dem VII. Weltkongress die befreiende Rede Dimitroffs. Sein Programm vorbehaltloser Vereinigung aller antifaschistischen Kräfte kam für Deutschland zu spät, nicht aber für das übrige Europa.

Verwirrt und ratlos gewahrt sie inmitten des noch immer fühlbaren Hauchs der Revolution erste Schatten jener düsteren Zeit, da Stalin kaum merklich, aber umsichtig und vielschichtig sein raffiniertes Machtgeflecht zu knüpfen beginnt: durch theoretische Aushöhlung und Deformierung des Marxismus zu einer Dogmenlehre, durch eine Geschichtsklitterung, die zunächst die politische Rolle Trotzkis und die theoretische Bedeutung Rosa Luxemburgs demontiert; durch ideologischen Drill zu Kritiklosigkeit, zu blindem Glauben und Personenkult statt Sachkenntnis; psychologisch durch gezieltes Schüren einer Atmosphäre des Misstrauens gegen jedermann, politisch durch Kaltstellen der alten Leninschen Garde und Ausschalten jeder Opposition bei gleichzeitiger Korruption einer ihm ergebenen Elite.

Lotte Hümbelin fragt bedrückt, wodurch es Stalin damals gelingen konnte, so vielen hochintelligenten, politisch erfahrenen Führern der Komintern die Absurditäten seiner Politik glaubhaft zu machen. Ihr Grübeln über diese bohrenden Fragen zum dunkelsten Kapitel der Geschichte des Kommunismus gerät ergiebiger als manch kurzschlüssige Beckmesserei unserer Tage. Nicht nur, weil darin hautnah erlittene Wirklichkeit gerinnt. Es legt Schichten und Stränge frei, die selten mitbedacht werden, die in ihrer Verflechtung manches schwer Fassbare besser erklären: objektive Gegebenheiten und politische Prioritäten ebenso wie intellektuelle Mitgift und psychologische Verfassung der Akteure. Deren Tun und Lassen ist eingewoben in die Dramatik ihrer Epoche, in unabweisbare Zwänge und Unwägbarkeiten, die damals nicht leichter durchschaubar waren als heutzutage.

Ihre Antwortsuche kreist zuallererst um die existenzielle Gefährdung des Sozialismus. Die braune Pest in Deutschland, die internationale Isolation und aussenpolitische Einkreisung der SU waren keine Erfindung Stalins. Das erste und einzige sozialistische Land der Welt musste verteidigt werden ohne Wenn und Aber! In solcher Lage erschien es nicht abwegig, in jeder organisierten inneren Opposition einen potenziellen Kristallisationspunkt der Feinde des Sozialismus zu fürchten. Lotte Hümbelin denkt auch an mittelbare Ursachen, die die Stalinsche Indoktrination begünstigten. Selbstkritisch analysiert sie die Bildungsarbeit der Jugendorganisation: die lückenhafte Allgemeinbildung jener Jahre, die Literatur, Kunst und Geschichte zugunsten der Ökonomie sträflich vernachlässigte, sodann die oberflächliche Geschichtskenntnis und schmalspurige Einengung der Universal- und Nationalgeschichte auf die Parteigeschichte der KPdSU. Doch entscheidend dafür, dass die Verzerrung der sozialistischen Idee so lange nicht wahrgenommen wurde, ist in ihren Augen die einseitige, wirklichkeitsfremde Vermittlung des Marxismus jener Jahre, die katechismusartige Denkschulung des Marxismus mit ihrem Moskauderwelsch (Karl Krauss): man las Marx'/Engels' Schriften als heilige Botschaften, nicht wie wissenschaftliche Texte. Lotte Hümbelin räumt ein: Wir wussten damals selber nicht, welch komplexes geistiges Produkt der Marxismus war, aus wievielen Quellen europäischer Geschichte und Philosophie gespeist, von denen man wenigstens einige kennen musste, um das, was Marxismus hiess, nicht in grobes Werkzeug zu verwandeln... In der Begeisterung der jungen Jahre vermeinte man ehrlich, einen theoretischen Leitfaden für die Praxis zu haben. Doch was wir für feststehende Maximen hielten, wurde schon damals fast täglich von der Praxis überrollt. Zu politischen und intellektuellen Faktoren kommen emotionale Barrieren: man wollte die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht wahrhaben, mochte die Unverträglichkeit der stalinschen Diktatur mit der demokratischen Grundgesinnung und dem emanzipatorischen Gehalt der marxistischen Konzeption nicht eingestehen. Überdies war die sowjetische Wirklichkeit höchst widersprüchlich: politisch war Moskau eindeutig die Zentrale der kommunistischen Weltbewegung, der Elan der Industrialisierung war echt, und trotz der Unterdrückung freien geistigen Lebens wurde vielerorts Ausserordentliches geleistet.

Lotte Hümbelins Vater, die meisten Verwandten und viele Freunde starben in faschistischen Gaskammern; andere fielen in den Reihen der Resistance: der Jugendfreund, zeitweilige Leiter der illegalen KPÖ und Mitarbeiter Dimitroffs, endete grauenvoll in den Folterkellern der Gestapo. Der für sie sehr viel schwerer erträgliche Akt der Tragödie - der Terror Stalins - verschlang ebenso viele Freunde und Kampfgefährten. Die Einsicht, dass die Sowjetunion nicht mehr sozialistisch war, bleibt die von allen Einsichten bitterste. Dennoch verwahrt sie sich gegen kurzschlüssige Suggerate, die Faschismus mit Sozialismus und Stalinismus mit Sozialismus identifizieren; sie beharrt darauf, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit niemals der Idee des Sozialismus entsprungen sind, dass das theoretische Konzept vielmehr eine humane Grundlage hat, und erinnert daran, wie oft im Namen der Humanität inhuman gehandelt wurde. Die menschliche Geschichte ist voll von Verbrechen. Lotte Hümbelin hat, wie andere Kommunisten an diesem barbarischen Jahrhundert gelitten und für ein besseres gestritten; den Nachfahren überliefert sie ihr Vermächtnis, hoffend, sie möchten verstehend lernen, das künftige zu bessern.

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Spurensuche in einem anderen Österreich

Erich Hackl / Frankfurter Rundschau

Die Adambergergasse ist ein kurzes Strassenstück im zweiten Wiener Gemeindebezirk, eingeklemmt im Häusermeer zwischen Donaukanal und Augarten. Auf beiden Seiten stehen dreistöckige Mietskasernen aus der Gründerzeit, kriegsbeschädigt, in den fünfziger Jahren wiederhergestellt. Mittendrin ein Neubau. In einem der alten Häuser, auf Nummer 2, ist vor neunzig Jahren Lotte Hümbelin geboren, Charlotte Bindel, wie sie mit ihrem Mädchennamen hiess. Ihre Eltern hatten sich in Wien kennen gelernt, stammten aber aus Lemberg bzw. Rockendorf, einem Marktflecken nahe der österreichisch - ungarischen Grenze. "Bernhard Bindel und Eugenie Kern, genannt Jenny, waren ganz einfach arme Leute, in eine Welt geworfen, in der sie sich abzappelten. Vater war immer etwas zerstreut und abwesend, mischte sich wenig ein. Mama blieb aller Kleinkram des Lebens vorbehalten, und sie bewegte sich mit Liebe und Zorn, mit Güte und Heftigkeit immer mittendrin."

Zum Einkaufen ging Lottes Mutter auf den nahen Karmelitermarkt, wer ihr, aber im Abstand eines Menschenlebens, dorthin folgt, wird in der Leopoldsgasse nach einigen hundert Metern an einem Wohnhaus aus den sechziger oder siebziger Jahren vorüberkommen. Vor dem Haus ist eine Stange mit Schild in den Asphalt gepflanzt: "Hier stand die 1892/93 nach Plänen des Architekten Wilhelm Stiassny erbaute 'Polnische Synagoge'. Zerstört in der 'Reichskristallnacht' am 10. November 1938." Vermutlich haben sich die Hauseigentümer geweigert, die Gedenktafel an der Fassade anbringen zu lassen, und mir ist, als wären das vier Koordinaten, innerhalb derer sich Lotte Hümbelins Leben entfaltet hat: die Synagoge, ihre Zerstörung, die Erinnerung an die Zerstörung, die Weigerung, sich der Erinnerung zu stellen.

Am anderen Ende der Adambergergasse, an der Ecke zur Schreygasse, hatte Lottes Vater seinen Friseurladen, der für eine kümmerliche Existenz gerade reichte. Hier kauerte Lotte in einem der Drehstühle und verschlang zum Ärger ihres älteren Halbbruders Jack Bücher aus der Leihbibliothek, die sie in eine Traumwelt versetzten, "in der es fein und nobel zuging, in der man zärtlich miteinander war und Beinkleider trug". Draussen lärmten Kinder, und wenn Lotte durch das Fenster schaute, sah sie das Kanalgitter in der Mitte der Gasse, das sie für eine Art Grenze zwischen den Bewohnern - armen Juden, armen Christen - hielt."Dahinter begann der christliche Teil, der uns schon fast Fremde war."

Im ehemaligen Friseurladen ist jetzt das Cafe Desiré untergebracht, ein finsteres Tschoch, wie Lotte Hümbelin sagen würde. Aber die Welt ihrer Kindheit ist auch nach neunzig Jahren gegenwärtig: Graue oder schmutzigbraune Hausfassaden, graue Bürgersteige, kein Park, kein Baum, kein Blatt. (Sogar der Papierkorb vorne an der Ecke ist grau lackiert.) Nur das Kindergeschrei ist verstummt, und die jüdischen Familien auf der einen Strassenseite sind vor langer Zeit verschwunden, nach Osten, wo aus Öfen schwarzer Rauch aufstieg. Unverändert ist die Bedürftigkeit der Menschen, die heute hier zu Hause sind, Österreicher, Türken, Jugoslawen, vielleicht auch der eine oder die andere aus dem früheren Galizien und aus Ungarn.

In der Adambergergasse haben Lotte Hümbelins Erinnerungen Wurzeln geschlagen. Aber die Autorin ist weit herumgekommen: Moskau, Prag, Paris, London, Zürich. In einer Vorbemerkung hat sie zu rechtfertigen versucht, was keiner Rechtfertigung bedarf - weshalb sie ihr Leben aufgeschrieben hat: "Je älter ich werde, desto mehr träume ich nachts von den Gestalten meiner Kindheit und meiner Jugend. Vater und Mutter, der Jugendfreund, andere Freunde tauchen mit fast schmerzhafter Eindringlichkeit auf, so als mahnten sie mich, sie nicht ganz zu vergessen, sie nicht ganz sterben zu lassen. Die Traumbilder verfolgen mich bis in den aktiven Tag hinein, bitten mich, sie festzuhalten."

Die österreichische Linke ist reich an Erinnerungsbüchern, Autobiografien, Gesprächsprotokollen, die jüngere Publizistinnen und Historiker zeitgerecht angefertigt haben. Allein das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes birgt eine Fülle von Lebenszeugnissen, deren Wert kaum ermessen werden kann - in letzter Zeit ist keine Woche vergangen, in der ich nicht vom Tod eines oder einer dieser Veteranen der Arbeiterbewegung erfahren habe, die in die sozialen Kämpfe des Jahrhunderts verwickelt waren. Mit jedem, jeder von ihnen stirbt etwas in uns selbst: die Gewissheit, nicht allein dazustehen in einer Welt, die zur Vereinzelung grimmig entschlossen scheint, die Erfahrung von Aufruhr und Widerstand, der Trotz, gegen Unrecht, wo immer es sich zeigt, anzugehen, der Zweifel auch, ob man nicht den falschen Weg eingeschlagen hat. Seit langem gibt es in Österreich kein Forum mehr, das einen Dialog über die Generationen hinweg ermöglichen würde, so sind es die Bücher die daran erinnern, welch menschlicher Reichtum hinter bröckelnden oder frisch angefärbelten Fassaden gewachsen ist.

Dank Lotte Hümbelins traumscharfen Erinnerungen rücken sie ins Zentrum der Welt. Und dies, obwohl die Autorin eingesteht, dass sie sich nicht alles sagen lässt, "die Scham verbietet es. Man muss aussparen, weglassen, darf nur einzelne Erinnerungsbrocken hochheben ans Licht. Wie fragwürdig ist ein solches Unternehmen." Und welch ein Glücksfall, dass sie es zu Ende gebracht hat! "Mein eigener Kopf" ist vieles in einem: ein Entwicklungsroman, ein Sittenbild der Armut, ein Brevier der Klassenkämpfe, ein Lob der Freundschaft, ein Plädoyer für den aufrechten Gang, eine gültige Sicht auf unser Jahrhundert.

Viel Prominenz taucht auf den Seiten auf, aber Hümbelin erliegt nicht der Versuchung des name-dropping, sie folgt den Verästelungen ihrer privaten Geschichte, die doch immer öffentlich bleibt. Die Diskretion, der sie sich verpflichtet fühlt, bedeutet nicht, dass ihre Erinnerungen verschwimmen. Im Gegenteil, sie ist konkret auch dort, wo es weh tut, und im Grunde handelt der grösste Teil des Buches von unerfüllten Leben, zu dem sie sich gleichwohl stolz bekennt. Da ist ein schroffer Gegensatz zwischen dem sehnsuchtsvollen Sog dieser Erinnerungen und der alles andere als schwärmerischen Sprache, in der sich diese Sehnsucht mitteilt. Mit grosser Bestimmtheit beschreibt Lotte Hümbelin ihren gleichermassen typischen wie unverwechselbar individuellen Werdegang: Arm geboren, eingeschnürt von vielerlei Verboten und Ängsten, schüchtern und gehemmt, von Selbstzweifeln geplagt, aber früh überzeugt, dass es Not tut, sich politisch zu betätigen - zuerst bei der Sozialistischen Arbeiterjugend, dann im Kommunistischen Jugendverband.

Sie verliebt sich in Hermes Köhler, der für die Komintern Kurierdienste leistet, folgt ihm Anfang der dreissiger Jahre nach Moskau, wo sie als Verlagslektorin arbeitet, kehrt 1933 nach Wien zurück, wird in Prag verhaftet und eingesperrt, betreut in Paris, 1937, österreichische Freiwillige auf deren Reise nach Spanien, in den Bürgerkrieg. Den deutschen Einmarsch, März achtunddreissig, erlebt sie in Wien, flieht in die Schweiz, wird wegen "Überfremdung" zum Verlassen des Landes aufgefordert. Ein Hausangestellten-Visum ermöglicht ihr die Einreise in England, wo sie sich als Köchin und Kindermädchen verdingt, dann den Schweizer Fred Hümbelin heiratet, mit dem sie im Sommer 1939 nach Zürich übersiedelt.

1941 kommt ihr Sohn Karl zur Welt, hauptsächlich seinetwegen - um "das nagende Fremdheitsgefühl zu lindern, das oft zwischen den Allernächsten eine Wand errichtet" - hat Lotte Hümbelin ihre Erinnerungen aufgeschrieben. "In der Schweiz erwartete uns kein leichtes Leben. Es war für uns beide, trotz aller Widerwärtigkeiten, materieller Härten und wiederkehrender Polizeischikanen, genau das Leben, das wir beide wollten Es war Erfüllung."

Es ist ein stolzes Wort, mit dem die Aufzeichnungen enden. Die sechs Jahrzehnte, die Lotte Hümbelin in ihrer "Adoptivheimat" verbracht hat, erhellen sich in einem nachgereichten Gespräch, das die Lektorin des Buches, Jeannine Horni, mit ihr geführt hat: Kein leichtes Leben für eine Kommunistin und Frau eines ebenfalls kommunistisch gesinnten Lehrers, in der Schweiz zurechtzukommen, aber immerhin war sie nicht mehr in Todesgefahr. Hermes, ihr Jugendfreund, fiel übrigens jener KPÖ-Politik zum Opfer, die euphemistisch mit "Kaderverschleiss" umschrieben wird: Unzulänglich ausgerüstet, ohne Anlaufadresse sprang er im Februar 1943 mit dem Fallschirm über dem Burgenland ab und wurde sofort festgenommen, weil die Gestapo von Absprungszeit und Absprungsort in Kenntnis gesetzt worden war. Nach wochenlangen Folterungen wurde er in ein Konzentrationslager gebracht, dort kurz vor der Befreiung ermordet.

Lottes Liebe zu ihm war schon Jahre zuvor, durch sein Verschulden, erloschen. Aber: "Es ist mir nicht gegeben, Menschen, die ich einmal geliebt habe, einfach aus meinem Leben zu streichen. Sie waren darin und gehören zu mir… Ein langes, ein glückliches Leben hätte ich mir für ihn gewünscht, ein Leben, in dem er immer weiter von mir weggedriftet wäre, so dass ich irgendwann mit freundlicher Ironie auf unsere Jugendjahre hätte zurückblicken können. Das verhinderte sein früher Tod, erhöht durch sein Martyrium. Im Traum kommt er immer wieder von irgendwoher zu mir, der Jugendfreund aus der Ferne, und sucht Hilfe in der Not."

Auch die Eltern suchen Hilfe, die Mutter, die sich in einer Gefängniszelle des Schuschnigg-Regimes die Krankheit holte, an der sie bald nach ihrer Freilassung starb, der Vater, der in Auschwitz ermordet wurde, der zweite Halbbruder Jula, Kommunist wie sie, der in der Sowjetunion fiel, im Kampf gegen Nazideutschland. Dann sind da die vielen Gefahrten, Lehrerinnen, Schulfreundinnen, ebenfalls tot lang vor der Zeit oder über alle Kontinente verstreut, Wiederkehrer aus Lotte Hümbelins Träumen, durch sie in unsere Gegenwart gestellt.

Allein die dramatischen Umstände einer solchen Biographie würden diese Aufzeichnungen rechtfertigen. Einzigartig macht sie "die unstillbare Lust und der Drang, über die Dinge des Lebens nachzudenken, sie nicht als etwas Alltägliches, Gewöhnliches und Banales hinzunehmen". Die Autorin widersteht der Verlockung, die vielen heroischen Lebenslinien zu einer Art Heldenepos zu verknüpfen, verweigert sich aber auch dem gesellschaftlichen Druck, die kommunistische Gesinnung reumütig zu verwerfen. Sie sucht nach Erklärungen, unterläuft Klischees, sinnt über den Zusammenhang von Herrschaft und Erinnerung nach: "Es ist bezeichnend, dass ich nur die Namen und Gesichter jener Mitschülerinnen im Gedächtnis behalten habe, die zu den Besseren gehörten. Die hübschen, gepflegten Kinder stachen durch ihr Aussehen, ihre Kleidung, ihren Charme, ihr sicheres Benehmen hervor. Das ärmste Kind, die Tochter eines Strassenkehrers, hat für mich kein Gesicht."

Lotte Hümbelin ist zärtlich und schonungslos zugleich. Ihre Zärtlichkeit erweist sich in der Hingabe, mit der sie über die Menschen in ihrem Leben berichtet, schonungslos ist sie, im Schreiben über sich und andere, weil sie nach Erkenntnis, nicht nach Entschuldigung aus ist. In Zusammenhang mit der quälend unentschiedenen Liebesbeziehung zu Hermes Köhler - unentschieden von seiner Seite aus - schreibt sie: "Ich erzähle diese Dinge ohne die geringste Bitterkeit. Ich bedaure nichts. Dass ich in der Jugend so wenig glücklich sein konnte, lag an mir selbst, an den Umständen." Aber sie schreibt auch: "Ich konnte einen Mann noch so lieben, meine eigenen Ansichten und meinen eigenen Kopf gab ich nie preis."

Für junge Leser. Für die heranwachsende Jugend. Für Jugendliche besonders geeignet. Solche Empfehlungen in Buchlisten haben etwas Despektierliches an sich, sie nehmen oft weder die empfohlenen Werke noch die Leser ernst, denen die Empfehlungen gelten. Bei diesem Buch wünsche ich aus ganzem Herzen, es mögen möglichst viele Jugendliche danach greifen: durch die Art wie Lotte Hümbelin ihr Gefühl des Alleinseins in der Welt, die Gleichzeitigkeit von wildem Protest und grosser Unsicherheit schildert, wäre es ihnen so nahe.

Es beschämt mich, dass dieses sorgfältig redigierte und lektorierte Buch in der Schweiz erschienen ist. Denn in ihm steckt jenes rebellische und grossherzige Österreich, das wir - eingeschüchtert durch den Vormarsch der extremen Rechten, die uns die eigene Geschichte zu entwinden droht - kaum noch für wahr halten.

(Der Artikel ist auch im Wiener Falter und in der WoZ erschienen.)