Die Teufelspferdchen

Buch

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Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft und Gert Loschütz

Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

160 Seiten

CHF 22.00, EUR 22.00

ISBN: 978-3-85990-127-8


7 Rezensionen

Der Protagonist dieses Romans hat keinen Namen. Er wird „der, der sich zwischen den Pflanzen verliert“ genannt. Wir kennen ihn bereits aus Tomas Gonzalez‘ früher erschienenen Romanen: In Horacios Geschichte ist er noch ein Jugendlicher, einer von lvaros Söhnen, Jeronimo Guillermos Vetter, J.s und Davids Bruder und wird als „der, der etwas von Bäumen verstand“ vorgestellt. In „Am Anfang war das Meer“ ist er der „Verwandte“, von dem sich J. um seine Erbschaft betrogen fühlt und der am Ende J.s Beerdigung effizient und herzlos in die Hand nimmt.

Der Roman beschreibt, wie der Protagonist eine Finca am Rand der Grossstadt Medell’n erwirbt und bewirtschaftet. Diese Bewirtschaftung – ein kontinuierlicher Ausbau und eine ständige Verschönerung des kleinen Landguts -, die er und seine Frau Pilar mit eigenen Händen betreiben, führt die beiden in eine immer grössere Einsamkeit. Es ist ein vielschichtiger, tiefgründiger, geheimnisvoller Roman, das Charakterbild eines Mannes, der – vor einer Schuld fliehend? – sich zunehmend von der Welt abkapselt und von der Vegetation, die er selbst hervorbringt, schlucken lässt. Mit der Finca schafft sich der Protagonist durch unermüdliche Arbeit ein von der verpesteten, habgierigen, gewalttätigen Aussenwelt abgenabeltes Mikroparadies, das zugleich eine Hölle ist, weil ein †bermass an Schönheit und Perfektion etwas Erstickendes hat und weil er sich selbst nicht entfliehen kann. Neben dem Protagonisten und seiner Frau werden mehrere Familienangehörige – unter anderen J. als junger Heisssporn in Medell’n und David, das alter ego des Autors – und viele Nebenfiguren lebendig.

Kurz gesagt: Das Buch ist die spannende, brillant erzählte Geschichte eines Scheiterns innerhalb eines Scheiterns, der persönliche Schiffbruch des Protagonisten innerhalb des Niedergangs der kolumbianischen Gesellschaft (hier aufgezeigt am Beispiel der Stadt Medellin).

Herausgegeben mit Unterstützung von Litprom, Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika

Rezensionen

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Versuch, die Menschen zu vergessen

Erich Hackl / Die Presse / 18.10.08

"Die Teufelspferdchen": Tomás González' Roman über das allmähliche Verschwinden eines kolumbianischen Aussteigers.

Ein Geschäftsmann, jung noch, Anfang oder Mitte 30, erwirbt eine kleine, verwahrloste Kaffeepflanzung am Hang über einer kolumbianischen Großstadt. Vier Hektar Land, das er mit Hingabe und Geschmack in ein irdisches Paradies verwandelt. Eines, das auch nützlich ist, in dem er Gemüse zieht, Obst und Kaffee erntet, Kaninchen, Gänse, Hühner hält. Er lebt nicht allein in diesem Wundergarten – schon der erste Satz des Romans gilt seiner Gefährtin Pilar: "Die Frau ist leicht wie ein Vogel und hat mit der Zeit eine Leidenschaft für Schmuck aus den alten Gräbern entwickelt." Der Ausdauer des namenlosen Helden im Bemühen, die Natur zu hegen, ihr gleichzeitig die Wildnis zu belassen, entspricht das Talent der Frau, sie mit selbst gewebten Wandteppichen, selbst geschaffenen Wandbildern künstlerisch zu überhöhen.

Was im Tal vor sich geht, wird in variantenreichen Beschreibungen dem Leben am Hang der Kordillere gegenübergestellt: "In den Cafés unten redeten die Menschen von ungedeckten Schecks, Prozenten, Morden, während die Tauben mit einem trockenen Klatschen vom Schlag aufflogen und am Himmel vor den Wolken, vor den Bergen kreuzten, aufleuchteten, wenn ein Sonnenstrahl sie traf, in weitenKreisen über dem Bitterorangenbaum schwebten, wo der Taubenschlag war, über denSonnenblumen, denFischteichen, der Vogelscheuche, die nachtswie ein Toter aussah,über dem mit Rosenverstärkten Stacheldraht und über ihm, der sich wie ein Affe in der Fülle bewegte, die er selber unermüdlich schuf."

Davon handelt der dritte Roman des aus Medellín stammenden Schriftstellers Tomás González, der nach Jahren im Ausland heute in Chía lebt, einer ländlichen Gemeinde eine halbe Autostunde von Bogotá entfernt: vom Rückzug eines Menschen aus der Welt der lärmenden Ökonomie und blinden Gewalt, von seinem Wohlgefühl inmitten der üppigen, immer weiter um sich greifenden Vegetation, in Türmen und anderen Zubauten, deren Räume er mit Vorräten, alten Büchern, Gemälden, Masken und Schädeln füllt.

Folge der Glückssuche: Isolation

In der Darstellung eines solchen Lebens teilt sich außer dem Behagen daran auch die wachsende Gefährdung mit, die sich in Vereinsamung äußert, in sozialer Isolation. Dass seine Firma Pleite macht, ist dem Namenlosen willkommener Anlass, die Stadt endgültig zu meiden, dass er sich mit zwei Brüdern zerkracht, Gelegenheit, die Familienbande zu lockern, und irgendwannkommt der Moment, da er nicht einmalmehr den wenigen Freunden öffnet, die ihm geblieben sind. Weder die Nachricht von der Ermordung der Brüder noch die Geburt einer Tochter, dann eines Sohnes, deren Anblick ihm immerhin noch ein Lächeln entlocken, verbinden ihn wieder mit der Welt. So stellt sich die Frage, ob dieser Drang von allem Anfang an in ihm war oder von seiner gleichermaßen rastlosen wie geruhsamen Existenz auf der Finca erst geweckt wurde: "zwischen den Pflanzen zu verschwinden und zu versuchen, das Menschengeschlecht zu vergessen".

Wie in allen Prosastücken dieses ungemein feinfühligen, auf Genauigkeit bedachten Erzählers geht es auch in „Die Teufelspferdchen“ um die Suche nach einem Ausgleich zwischen dem Bedürfnis nach Einsamkeit und der Sehnsucht nach Vertrauen, das gemeinschaftliches Tun voraussetzt. Unter ihrem Unvermögen, beides miteinander zu verbinden, leiden González' stille Helden, die Männer mehr als die Frauen, aber immer sind auch Menschen um sie, denen es scheinbar mühelos gelingt, ganz bei sich zu sein und sich doch hinzugeben, dem andern, ohne Vorbehalt. Denen möchte man dann, als Leser, ebenbürtig werden.

Tomás González verwischt nicht die Tragik von Menschen, die sich in ihrer Glückssuche verrennen. Er nimmt sie ernst, ohne die heiteren Momente in ihrem Dasein zu übersehen, und berichtet auch davon, was sich außerhalb der Zäune abspielt, die sie um sich ziehen. Von der Klassengesellschaft, vom Kapitalismus, von der Gewalt. Dazu braucht er nur ein paar Worte, über geplatzte Wechsel, Ananasverkäufer, Bettler mit geschwollenen Beinen. Er hat einen feinen Humor, der seine Geschichten offenhält über ihr Ende hinaus, und findet nichts dabei, dem ehrlich gemeinten Lob eine verblüffende Wirkung anzudichten: "Du bist eine tolle Künstlerin, sagte Hernán voller Bewunderung zu Pilar und zauberte mit diesem Kompliment ihre Schönheit hervor."

"Die Teufelspferdchen" lässt sich – wie die auf Deutsch schon vorliegenden Romane "Horacios Geschichte" und "Am Anfang war das Meer" – als Teil einer Familiensaga lesen, in deren Mittelpunkt diesmal der zweitälteste Bruder des Autors steht. Tomás González hat den Roman Anfang der Neunzigerjahre in New York geschrieben, auf Spanisch aber erst 2003 veröffentlicht, "nachdem ich meinen Hass auf die Hauptfigur überwunden hatte und einige Stellen umschreiben konnte".

Ein Hoch auf diese Übersetzung!

In seiner Heimat gilt er immer noch als "das bestgehütete Geheimnis der kolumbianischen Literatur", auch wenn seine Lesergemeinde unaufhörlich wächst. Letzteres ist vor allem das Verdienst seines Freundes Peter Schultze-Kraft, der González' Landsleuten seit Jahren klarzumachen versucht, was sie an diesem Autor und seinem Werk haben. Mit der deutschen Fassung von "Loscaballitos del diablo" hat Schultze-Kraft, der innigste Vermittler und anspruchsvollste Übersetzer lateinamerikanischer Literatur, sich selbst übertroffen. Er wahrt die lapidare Schönheit des Originals gerade auch dort, wo er es, nach Absprache mit dem Autor, behutsam verändert, und findet für Sentenzen und Begriffe, die einem schier unübersetzbar vorkommen, verblüffend taugliche, raffinierte Lösungen.

Im Nachwort – eigentlich einem Streitgespräch mit dem Schriftsteller Gert Loschütz darüber, ob ein literarischer Text überhaupt eines Nachworts bedarf – gewährt er Einblick in seine Übersetzerwerkstatt, in der ihm diesmal zwei Familienangehörige zur Hand gegangen sind. Hier werden auch die Gründe genannt, weshalb man sich, nach der Freude des Entdeckens, dann noch der demütigenden Suche nach einem Verlag, den Qualen des Übersetzens und der Mühe des Nachwortschreibens unterwirft: weil man sich mit etwas verbinden will, das einem so gut, lebendig und wahr erscheint, und weil man andere mit dem Virus der eigenen Begeisterung anstecken möchte. Das wäre, nebenbei gesagt, auch die Antwort auf die Frage, warum sich einer unaufgefordert, aus freien Stücken mit einer Buchbesprechung plagt.

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Ein Drama von Liebe und Hass

Werner Hörtner / Südwind-Magazin / 10/2008

ER, die Hauptperson dieses Romans, er, der namenlose Protagonist, der bis zum Schluss nur mit Attributen bezeichnet wird (z.B. "er, der sich heute im Laub verliert"), der 31-jährige ER fühlt sich ausgebrannt und beschließt, sich auf ein Landgut zurückzuziehen. Anfang der 1970er-Jahre kauft er oberhalb von Medellín ein vier Hektar großes, vernachlässigtes Grundstück, um sich seinen eigenen Mikrokosmos aufzubauen. Im Laufe der Jahre macht er aus dem Land mit ein paar halb verdorrten Kaffeesträuchern und Bananenstauden durch unermüdlichen Einsatz seiner Arbeitskraft und seiner Fachkenntnisse einen Garten Eden – ein Paradies, wie die BesucherInnen sagen. Eigentlich eine schöne romantische Geschichte.

Wenn, ja wenn wir uns nicht in Kolumbien befänden, in einer Zeit, in der sich der Drogenhandel wie eine Seuche auszubreiten beginnt, und wenn es da nicht ein Familientragödie gäbe, in die der Autor direkt involviert ist. Ein Drama von Liebe und Hass, von Tod und Einsamkeit. Der Autor ist einer der Brüder im Roman, deren Zerwürfnis sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht, wie Peter Schultze-Kraft in seinem Nachwort erläutert. Das Schreiben als Überlebensmechanismus. "Er, der sich in der Vegetation verliert", kapselt sich immer mehr von der Umwelt ab, schließt sich – mit Frau und den zwei Kindern – in seinem Mikrokosmos ein, versinnbildlicht im Bau einer hohen Mauer rund um das Grundstück.

Wie in keinem anderen der Romane von Tomás González spielt in diesem Buch die gewalttätige Realität Kolumbiens eine tragende Rolle. Die zwei Brüder werden umgebracht; immer häufiger werden Leichen neben der Straße, die zum Landgut heraufführt, gefunden. Doch "er, der am liebsten in seine grüne Welt eintaucht", scheint von all dem unberührt zu bleiben, er lebt mit Frau, Sohn und Tochter wie auf einer Insel der vegetalen Üppigkeit.

Und Gott, der Schöpfer – wie kann er nur so viel Gewalt, so viel menschliches und soziales Elend wollen? "Ist ein ziemlicher Reinfall, dieser Affe, der den Herrn der Schöpfung spielt, ein gefährlicher Irrer", resümiert die Mutter des Protagonisten am Ende des Romans.

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Der Himmel über Medellin

Andreas Platthaus / Frankfurter Allgemeine Zeitung / 15.11.08

Willkommen im Club der Blumenfreunde: In seinem Roman "Die Teufelspferdchen" erzählt der Kolumbianer Tomás González von einem Eigenbrötler in dessen Garten.

Dieses Buch von gar nicht epischen Ausmaßen verfügt gleichwohl über einen epischen Ton: "Das Haus steht am Rand der Kordillere und blickt auf die Stadt unten. Durch das Tal rinnt ein stinkender Fluss in einem Zementbett, und an windstillen Tagen ballt sich zwischen den hohen Bergen der Rauch und steht dort, prall von Sonnenlicht, hilflos leuchtend im Raum." So heißt es schon im ersten Absatz, und damit ist einer der Hauptakteure vorgestellt: das Haus an den Hängen über der kolumbianischen Stadt Medellín. Die anderen beiden sind die Bewohner dieses Hauses: ein Mann, der keinen eigenen Namen trägt, und dessen Frau Pílar.

Als der Protagonist das erste Mal auftritt, heißt es über ihn nur: "Er liebt es, in seinem üppigen Garten oder im Kaffeewald zu verschwinden." Fortan wird er gar nicht mehr anders genannt als "der, der sich zwischen den Pflanzen verliert". In der Tat kommt dieser Mann der Welt abhanden, weil all sein Sinnen und Trachten der Perfektionierung des Domizils gilt. Über Haus und Garten vergisst er die Menschen - und sie vergessen irgendwann ihn.

Tomás González hat seinen Roman "Die Teufelspferdchen" in den siebziger Jahren angesiedelt, jenem Jahrzehnt, als Medellín zur Hochburg des Kokainhandels wurde und sich dort eine Parallelgesellschaft innerhalb Kolumbiens entwickelte, die ein eigenes Wirtschaftssystem, eigene Armeen und vor allem eine eigene Justiz installierte. In dem Haus hoch über der Stadt ist davon wenig zu spüren, aber die Söhne der Nachbarn fallen den Bandenkriegen zum Opfer, und bisweilen stehen die Rächer sogar vor der Tür, doch das Ehepaar am Berghang hat sich seine eigene Welt geschaffen, in der die reiche tropische Natur ein unauflösbares Bündnis mit dem Menschenwerk eingegangen ist. Permanent werden im Laufe der Handlung um das Grundstück Mauern und Zäune errichtet, am Haus Gitter angebracht und Tore verstärkt, doch jede Befestigung ist durchwirkt mit floraler Pracht, so dass die Retraite des Ehepaars ein blühendes Bollwerk gegen alle Zumutungen der Umgebung darstellt.

Dem Geschehen ist ein Zitat aus "Robinson Crusoe" vorangestellt: "Auf dieser Palisade oder Festung trug ich unter unendlichen Mühen meine ganze Habe zusammen." Das trifft auf den namenlosen Protagonisten zu, aber auch auf den Autor González selbst, der seine Bücher als Zufluchtsorte nutzt, in denen er sein Leben versammelt. Deren Sprache ist nicht maßlos oder schwelgerisch genug, um das Verlangen eines breiten europäischen Publikums nach Exotik befriedigen zu können, aber sie weist eine viel eher an dem mexikanischen Autor Juan Rulfo als am kolumbianischen Landsmann Gabriel García Márquez geschulte Präzision der Wortwahl auf, die bei der Lektüre hohe Konzentration voraussetzt. In seinem Nachwort legt der Übersetzer Peter Schultze-Kraft Rechenschaft ab über die Eindeutschung einer solchen Prosa. Allerdings hat schon zuvor das Resultat für sich gesprochen.

Immer wieder wird etwa der Blick auf die Stadt im Tal beschworen, doch jedes Mal wandelt sich durch leichte Variation des rast- und morallosen Lebens dort unten die Sprachmelodie um entscheidende Nuancen. Das Bild einer Metropole, in der alles beim Alten bleibt - die ihre Früchte portionierenden Obstverkäufer, die über finanzielle Angelegenheiten debattierenden Kaffeehausbesucher, die Flugzeuge am Himmel -, täuscht, denn mal sind es Ananas-, dann Mangoverkäufer, mal geben ungedeckte Schecks das Gesprächsthema ab und dann Gewinnspannen, mal starten Flugzeuge, und dann landen sie. Diese im Einzelnen wechselnden Beobachtungen werden zudem von González miteinander kombiniert, so dass sich eine auf den ersten Blick fünffach wiederholte Textpassage als fünffach individuelle Situationsbeschreibung erweist. Das Leben in Medellín ist ungleich lebendiger als das im Haus darüber. Dabei gibt es auch Szenen von subtiler Komik, an denen uns González im verwunschenen Heim teilnehmen lässt: die unterschiedliche Reaktion der Gäste auf die Dusche etwa, über der der Hausherr das Dach fortgelassen hat. Oder die steten Beteuerungen einer Tante, nie wieder werde sie zu Besuch kommen, doch natürlich trifft sie samt Tochter immer wieder ein. Es entfaltet sich auch ein gewaltiges Familienpanorama, das hinter dem Unverständnis für die Isolation des Ehepaars am Berghang die Leidenschaft erkennen lässt, von denen all diese Menschen beherrscht werden.

Drei der bisher vier Romane des 1950 in Medellín geborenen Tomás González sind bislang auf Deutsch erschienen, dazu ein Band mit drei längeren Erzählungen. In alle diese Bücher ist viel Autobiographisches eingeflossen. Namentlich die Romane erzählen nur leicht kaschiert vom Leben des jungen Schriftstellers, der in seiner Prosa unter dem Namen David firmiert - Künstler und Jüngster unter vier Brüdern, deren Schicksale in wechselnder Folge den Stoff der Romanhandlungen abgeben. So war es in dem vor zweieinhalb Jahren auf Deutsch erschienenen, im Original bereits 1983 publizierten "Am Anfang war das Meer" der dritte Bruder J., dessen ungleich herrischere Form der Landnahme den Erzählstoff bot - bis hin zum Tod von J. im Jahr 1977. In den "Teufelspferdchen" ist er wieder vertreten; wir sind in der Zeit gegenüber der Handlung des älteren Romans also zurückgegangen; doch dafür erzählt das neue Buch über 1977 hinaus.

Am Schluss heißt es: "Manchmal vergehen viele Stunden, ohne dass auf den vier Hektar eine menschliche Stimme zu hören ist. Aber fast die ganze Zeit ist angefüllt mit dem Klang der Hacke oder dem Klang der Machete, und mittendrin hört man ihn wie ein Tier zwischen den abgehauenen Ästen rascheln." Ihn - das meint den namenlosen zweiten Bruder, der auf diese Weise David, der in den "Teufelspferdchen" nur eine Nebenrolle spielt, genauso verlorengeht wie die beiden anderen Brüder.

Der Titel des Romans verdankt sich einer volkstümlichen Bezeichnung für Libellen: caballitos del diablo. "Dieses Insekt", so wird einmal im Buch ein Lexikoneintrag zitiert, "hält sich im Gleichgewicht in der Luft." Genau das versucht auch das Ehepaar hoch über der Stadt. Doch die Menschen, das macht Tomás González ganz klar, sind dazu nicht gemacht. Wenn ihre Hoffnungen zu fliegen versuchen, sind sie wie der Rauch über Medellín: hilflos.

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Ein "Must have"

Julia-Rebecca Riedel / Kritische Ausgabe - Signale aus dem Kulturbetrieb

Verloren habe ich mich im Sommer im "Gesamtwerk" Tomás González', DEM aufstrebenden Stern am kolumbianischen Literaturhimmel, der vom Feuilleton gerne in die Tradition eines Gabriel García Márquez gestellt wird. González versteht es in schlichten, sanft fließenden Worten, virtuose Bilder zu zeichnen, die Bleistiftskizzen bleiben und den Leser herausfordern. Horacios Geschichte, eine Geschichte der verbleibenden Lebenszeit als Folge letzter Herausforderungen und Zumutungen, hat mich einen wunderbaren Sonntag lang gefesselt und einen wunderbaren Sommer lang nicht mehr losgelassen. Alles an dieser Geschichte war alltäglich und nichts daran war oberflächlich, alles war nur anskizziert und nichts fehlte in dieser Studie. Nie zuvor habe ich so viel Leben zwischen zwei Buchdeckeln gefunden. Absolut stark. Mit Die Teufelspferdchen habe ich nun eine ewige Orangenplantage, keine weitere Skizze, sondern eine Überskizzierung des Eigentlichen in mir. Ein "must have" für jeden meiner Freunde in diesem Jahr zu Weihnachten: die "Kopie" einer dieser Zeichnungen, eine Kurzgeschichte, die ein ganzes Leben bedeutet. Ein ganzes Leben in all seinen lustvollen wie abgrundtiefen Schlechtigkeiten: Ein unwahrscheinliches Grün.

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Ein Paradies ohne Menschen

Karl-Markus Gauss / NZZ / 24.1.09

«Die Teufelspferdchen» – ein Roman des Kolumbianers Tomás González

Da versucht einer sein persönliches Paradies zu erschaffen, und als er fertig damit ist, «gleicht er immer mehr einem Verdammten, einem Gespenst, das sich an Pflanzen und Bäume anklammert». Fünf Jahre braucht er, um aus einer heruntergekommenen kleinen Kaffeepflanzung einen ummauerten, für Besucher verbotenen Garten Eden zu machen. Üppig wuchert in ihm die tropische Vegetation, und doch zeugt jeder Brombeerstrauch, Bananenbusch, Orangenhain vom überlegenen Gestaltungswillen dieses Gärtners, der hier seine Gegen-Welt errichtet hat. Das Glück, das er dabei findet, sieht dem Unglück zum Verwechseln ähnlich. Doppelgesichtig ist der Mann, «der in der Fülle versinkt», auch selbst: Flieht er vor einer Schuld – oder zieht er sich in die selbstgewählte Einsamkeit zurück, um nicht schuldig zu werden? Am Ende des Romans wissen wir immer noch nicht, wer er eigentlich ist: ein verkniffener Besserwisser, der sich mit allen überwirft, seine Brüder ums Erbe bringt, die Welt verachtet – oder ein unbeirrbarer Humanist, der den Anspruch auf Glück auch in den finsteren Zeiten, die herrschen, nicht aufzugeben bereit ist.

Ja, es sind finstere Zeiten, in den siebziger Jahren, im Umland der kolumbianischen Grossstadt Medellín, über die eine Welle der manchmal politisch, zumeist aber kriminell motivierten Gewalt zusammenschlägt. Die Finca liegt in den Bergen oberhalb von Medellín, und als der namenlose Protagonist sie erwirbt, ist er noch auf vielfältige Weise mit dem gesellschaftlichen Leben der Stadt verbunden. Doch wie es in leitmotivischer Variation immer wieder gesagt wird: «In den Cafés unten redeten die Menschen von ungedeckten Schecks, Prozenten, Morden» – und gerade deswegen darf oben davon nicht die Rede sein, nicht von den Gesetzen der Ökonomie noch von der Gesetzlosigkeit, die die Stadt in Griff genommen hat. Während er die Zivilisation flüchtet, sammelt der Mann mit seiner schönen Frau, die «leicht wie ein Vogel» ist, in seiner Fluchtburg die kulturellen Schätze der Region, indianische Totenmasken, präkolumbianische Tonfiguren, alte Bücher...

«Das Teufelspferdchen» ist der dritte Roman eines Zyklus, den der 1950 in Medellín geborene Tomás González seinen dickschädeligen, in kühne Projekte vernarrten und untereinander heftig zerstrittenen Brüdern gewidmet hat. Dass «Horacios Geschichte» und «Am Anfang war das Meer», die ersten beiden Stücke des Zyklus, auch im deutschen Sprachraum gebührende Resonanz fanden, ist das Verdienst von Peter Schultze-Kraft, dem formidablen Übersetzer und unermüdlichen Kundschafter. Im Nachwort zum neuen Roman versucht er neuerlich, Tomás González zum grossen Gegenspieler von Gabriel García Márquez und dessen magischem Realismus auszurufen. Diese Deutung ist fragwürdig, denn auch González ist kein Asket, wenn es um die Kunst der schönen Übertreibung geht. Schon der masslose Garten, dessen betörende Überladenheit der Autor eindringlich schildert, ist ein geradezu barockes Motiv; von den Brüsten einer Frau heisst es anerkennend, sie seien «so gross wie Wildäpfel», worunter der Geniesser sich vorstellen mag, was er will; und der Streit der vier Brüder hat ohnedies etwas Mythisches, über Jahre sprechen sie nicht mehr miteinander, und als zwei von ihnen eines gewaltsamen Todes sterben, nimmt es der dritte in seinem einsamen Paradies völlig ungerührt.

Wenn Tomás González etwas von den magischen Realisten unterscheidet, dann ist es seine konsequente Weigerung, der in Lateinamerika allgegenwärtigen Gewalt seinen literarischen Tribut abzustatten. Die Gewalt ist der Hintergrund aller seiner Romane, aber er spielt sie weder in schauerlichen Etüden noch in genüsslichen Episoden aus. Er ist ein beherrschter und wundersam gerechter Erzähler, der jeder Figur ihr Geheimnis belässt und selbst in jenen, die sich grimmig in ihren Obsessionen verschliessen, das Verlangen nach Glück und Gerechtigkeit aufzuspüren weiss.

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Mit Hacke und Spaten im Paradies

Hans Christoph Buch / Die Welt / 18.10.08

Tomás González erfindet mit einer meisterhaften Romantrilogie die kolumbianische Literatur neu

Tomás González ist der bestgehütete Geheimtipp der kolumbianischen Literatur: Der zurückgezogen bei Bogotá lebende Romancier, der 19 Jahre in den USA verbrachte, davon 16 in New York, findet auf dem Umweg über Europa nun auch in Lateinamerika die ihm gebührende Anerkennung. Dabei ist González kein Debütant: Der 1950 in Medellín geborene Autor ist längst den literarischen Kinderschuhen entwachsen und hat neben Erzählungen und Gedichten eine autobiografische Romantrilogie vorgelegt, eine Familiensaga, die der Schweizer Verlag edition 8 nunmehr komplett auf Deutsch zugänglich macht. Soeben erschien der dritte und letzte Band, "Die Teufelspferdchen", wie seine Vorgänger "Horácios Geschichte" und "Am Anfang war das Meer", kongenial übersetzt von Peter Schultze-Kraft.

Das Verblüffende ist, dass die Prosa von Tomás González ganz und gar nicht den Klischees des magischen Realismus entspricht, der unsere Wahrnehmung Lateinamerikas bis heute prägt. Anders als sein Landsmann García Márquez, der Exotik auf Erotik reimt und aus kolumbianischer Folklore Weltliteratur macht, erzählt González Geschichten gewöhnlicher Menschen, die sich ähnlich in Westeuropa zutragen könnten - so scheint es auf den ersten Blick. Man könnte von einer Neuauflage des Existenzialismus sprechen: Nicht Prometheus - Sisyphus heißt der Taufpate seiner Romane, die vom Scheitern hochfliegender Pläne, von der Vergeblichkeit aller Bemühungen handeln und mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit auf ein tragisches oder drastisches Ende zusteuern: Bekanntlich war Sisyphus ein glücklicher Mensch.

Der Protagonist des Buches ist ein älterer Bruder des Erzählers, von dem es heißt, dass er etwas von Bäumen versteht und sich im Grünen, "zwischen den Sträuchern verliert". Zusammen mit seiner Frau Pilar zieht er sich in eine Finca oberhalb von Medellín zurück. Während die in einem Talkessel gelegene Stadt an Autoabgasen und Müll erstickt und im Chaos des Drogenkriegs versinkt, ist der namenlose Held tagaus tagein mit Hacke und Schaufel, Maurerkelle und Machete zugange und erschafft mit seiner Hände Arbeit ein "künstliches Paradies", dessen Üppigkeit wie ein Füllhorn seine Zeit und Energie verschlingt. Der Traum von ökonomischer Autarkie ist nur realisierbar durch aggressive Abschottung von der feindlichen Außenwelt: "Auf dieser Palisade oder Festung trug ich unter unendlichen Mühen meine ganze Habe zusammen": So lautet das von Daniel Defoe entlehnte Motto des Romans, dessen Held wie Robinson auf seiner Insel immer eigenbrötlerischer wird und Fahrten in die Stadt nur noch widerwillig absolviert, ebenso wie Besuche von Freunden und Verwandten, die er, hinter selbstgebauten Mauern verschanzt, mürrisch abwimmelt. "In den Cafés unten redeten die Menschen von ungedeckten Schecks, Prozenten, Morden, während die Tauben mit einem trockenen Klatschen vom Schlag aufflogen und in weiten Kreisen über dem Bitterorangenbaum schwebten, über den Sonnenblumen, den Fischteichen, der Vogelscheuche, die nachts wie ein Toter aussah, über dem mit Rosen verstärkten Stacheldraht und über ihm, der sich wie ein Affe in der Fülle bewegte, die er selber unermüdlich schuf."

Ohne es zu wollen, hat Tomás González Adalbert Stifters "Nachsommer" neu geschrieben, ein Werk, das der Kolumbianer vermutlich nicht kennt und dessen biedermeierliches Bildungsprogramm er auf die Tropennatur überträgt, wo der Schönheitstrieb ins Monströse umschlägt und sich als Selbstzerstörung offenbart, eine Obsession, der auch Adalbert Stifter zum Opfer fiel, als er sich mit dem Rasiermesser das Leben nahm. So auch hier: Tod und Zerstörung, die der postmoderne Sisyphus mit Kaktushecken und Stacheldraht aus seinem Paradies ausschließen will, haben sich längst in dessen Innerem eingenistet, das Chaos ist stärker als die zu seiner Abwehr errichtete Ordnung, der Held bekommt Bauchschmerzen, Durchfall und Erbrechen und muss sich einer Magenoperation unterziehen, bevor er auf Nimmerwiedersehen im Kaffeewald verschwindet, aus dem, in immer größerer Entfernung, das Aufschlagen seiner Machete zu hören ist.