Hochverrat oder: Seltsame Wege zu Ferdinand Freiligrath

Buch

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Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

216 Seiten

CHF 22.00, EUR 22.00

ISBN: 978-3-85990-029-5


1 Rezension

Es gibt Verse, die, einmal geliebt, vielleicht auch verstanden, aus dem Gedächtnis nicht gelöscht werden können. Der Dichter Ferdinand Freiligrath hatte in seinem „Glaubensbekenntnis“ von 1844 dieses „Trotz alledem“ in die Welt gegeben, in seiner Übersetzung des schottischen Liedes von Robert Burns „Is there for honest poverty“. Im Juni 1848 hatte er die Variation niedergeschrieben: „Nur was zerfällt, vertretet ihr!/ Seid Kasten nur, trotz alledem!/ Wir sind das Volk, die Menschheit wir/ Sind ewig drum, trotz alledem!“

Für viele Zeitgenossen war Ferdinand Freiligrath »der Trompeter der Revolution«, manche jedoch nannten ihn einen „Philister“, einige hielten ihn für eine „Pestbeule“, ja, für ein „Ungeheuer“. Nach der Reichsgründung von 1871 waren die Worte des Dichters den Regierenden so verdammenswert, dass sie im März 1872 seine Verse aus dem Werk „Die Revolution“ zur Belastung für die wegen Hochverrats angeklagten Sozialisten Wilhelm Liebknecht, August Bebel und Adolf Hepner in die Anklageschrift aufnahmen.

Die Suche nach den Umständen zur Zeit Freiligraths führte Rosemarie Schuder nach Leipzig in die Ritterstrasse, wo der Prozess stattfand und wo nach jedem Verhandlungstag, wie Wilhelm Liebknecht berichtete, sich die Herren Staatsanwälte, Richter und Geschworenen in der „Restauration Schatz“ beim Bier trafen. Sie fand im Adressbuch von 1872 den Namen des Buchhändlers Adam Haessel, der als Geschworener von der Verteidigung benannt, aber von der Staatsanwaltschaft „verworfen“ wurde. Er ist die Gegenstimme zu den konservativen Herren, die am liebsten Freiligrath mit auf die Anklagebank gebracht hätten. Adam Haessel öffnet uns den Blick in die Welt des Schriftstellers Berthold Auerbach, der berühmt war durch seine »Dorfgeschichten«, aber in Berlin als Betroffener schliesslich das bedrohliche Anwachsen des Antisemitismus erleben musste. Mit Ferdinand Freiligrath verband ihn eine herzliche Freundschaft. Als Gruss für den nach London emigrierten Freund hatte Auerbach aus dem Ort, an dem das Glaubensbekenntnis enstanden war, ein Gedicht geschickt: „…hier bog der Dichtung Engel sich / zu dir im roten Abendschimmer.“

Wir begegnen in London Mary Eastman, der Verlobten des Dichtersohnes Wolfgang, sie vermutet in den Gemälden des englischen Malers Joseph Mallord William Turner einen Schlüssel zum Verstehen der Werke von Ferdinand Freiligrath, über den es hiess, er male mit Worten. Am Ende des Buches begegnen wir in himmlischen Gefilden einem Engel mit einer Waage.

Rezensionen

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Umfassende, ausgewogene Biografie

Wolfgang Büttner / Forum Vormärz Forschung

Der prägende Titel dieses historischen Romans stellt zu Lebensweg oder literarischem Werk des Dichters Ferdinand Freiligrath zunächst nur mittelbaren Bezug her. Denn nicht der in Düsseldorf 1848 gegen den Autor des berühmten Gedichts "Die Toten an die Lebenden" geführte Prozess ist hier gemeint, sondern der Hochverratsprozess, der 1872 in Leipzig stattfand. Verdächtigt der Vorbereitung dieses schweren Verbrechens und deshalb angeklagt waren die bekannten Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht, August Bebel und Adolf Hepner. Sie hatten zwar keineswegs Hochverrat vorbereitet oder gar begangen, dennoch wurden Liebknecht und Bebel für schuldig befunden und mit Festungshaft bestraft, denn sie hatten die gegen die Interessen des deutschen Volkes geführte Raubpolitik der Herrschenden öffentlich verurteilt, die der Friedensvertrag nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 sanktionierte. Ausserdem hatten die kompetenten Sprecher der damaligen Sozialdemokratie ihre Sympathie für die Pariser Kommune bekundet.

Freiligrath sass nicht auf der Anklagebank. Doch gegenwärtig war er durch einige seiner Gedichte aus dem "Glaubensbekenntnis" der Vormärzzeit und vor allem den Revolutionsjahren. Hatte er doch sogar 1851, als noch nicht alle Hoffnungen auf Veränderung der politischen Verhältnisse erloschen waren, neue Revolutionserwartungen in bewegende Verse gemünzt. Auch die enthielt die Anklageschrift, denn im "Volksstaat", dem sozialdemokratischen Parteiorgan, waren sie erneut abgedruckt worden. Verständlich also, dass die deutsche Justiz, Staatsanwälte und Richter wie auch die Mehrzahl der handverlesenen Geschworenen, den Dichter ebenfalls gern als Angeklagten auf der Sünderbank gesehen hätten. Und deshalb sollte belastendes Material auch gegen ihn aufgespürt werden. Diesem Bemühen ist der Hauptteil des Romans gewidmet, der somit dennoch ein Buch über Ferdinand Freiligrath darstellt.

Die Hauptaufgabe bei derartiger Materialbeschaffung übernimmt der Sohn eines der Geschworenen, der eigens aus diesem Grunde nach London gesandt wird. Am einstigen Exilaufenthaltsort des Dichters hofft man fündig zu werden auf der Suche nach belastenden Spuren. Sein Bemühen muss scheitern, da sein Ziel auf ebenso schwachen Füßen steht wie im Grunde genommen der ganze Leipziger Prozess, der weder Gedichte Freiligraths noch Handlungen der Angeklagten als Hochverrat zu bewerten imstande ist. Und der junge Mann auf Detektivreise muss heimgekehrt schliesslich bekennen, er schäme sich für seinen Vater, der ihn "aus Hass auf die Denkweise eines anderen Menschen als Sammler von Beweisstücken benutzen" wollte (S. 180). Indes dient im Roman sein Londonaufenthalt der Autorin zu einem opulenten Exkurs in die biedermeierlich?vormärzliche deutsche Literaturlandschaft.

Im Mittelpunkt der Gespräche, die den "seltsamen" Weg zu Freiligrath veranschaulichen und entschlüsseln, steht Mary Eastman, die Verlobte des Dichtersohnes Wolfgang. Sympathie wird bekundet für Nikolaus Lenau, Adelbert von Chamisso, Pierre Jean de Béranger oder Berthold Auerbach und nicht zuletzt für Heinrich Heine. Um den "Streit um Heines Bild in Chamissos Musen?Almanach" (S. 187) geht es und um Antisemitismus, denn es gab damals schon "viele Leute ..., die versteinerte graue Gesichter bekommen, wenn einer nur Heines Namen nennt" (S. 88). Und die Gespräche führen zugespitzt letztendlich zu der Frage: Wer war Ferdinand Freiligrath? War er der Dichter der "Wüsten- und Löwenpoesie", des "Glaubensbekenntnisses", "Trompeter der Revolution" oder des "Hurrah Germania"? Im Roman wird die Antwort auf diese Grundfrage, "wem das lebende und liebende Herz des Ferdinand Freiligrath" gehört, symbolisch in "jenem Himmel" beantwortet, "der den Dichtern vorbehalten ist" (S. 197). Aber die Autorin lässt keinen Zweifel über ihr eindeutiges irdisches Urteil aufkommen: "... viele seiner Mühen waren Umwege auf der Suche nach Wahrhaftigkeit". Sein Herz schlug für Fortschritt, für Gleichheitsanspruch aller Menschen gemäss dem "in seine Sprache gebrachten" Bekenntnis des schottischen Dichters Robert Burns "Trotz alledem" (S. 200).

Es handelt sich, wie explizit dem Titel nachgeordnet betont wird, um einen historischen Roman. Sein Gegenstand allerdings ist durchaus aktuell. Und interessant für die Gegenwart ist er nicht nur deshalb, weil bis heute eine umfassende, ausgewogene Freiligrath-Biographie noch nicht geschrieben wurde. Der neue Roman der in diesem Genre besonders erfolgreichen Schriftstellerin Rosemarie Schuder wird sicher viele Leser ansprechen, die für historische und literarische Themen aufgeschlossen sind. Doch er verdient auch Aufmerksamkeit zu finden bei Historikern und Germanisten vom Fach.

Wolfgang Büttner