Horacios Geschichte

Buch

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Aus dem Spanischen von Peter und Ofelia Schultze-Kraft

Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen

176 Seiten

CHF 22.00, EUR 22.00

ISBN: 978-3-85990-006-6


7 Rezensionen

Fontane hat mit koketter Bescheidenheit über sein Meisterwerk, den Stechlin, gesagt: „Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht.“

Ähnlich knapp liesse sich der Inhalt von Horacios Geschichte wiedergeben: Ein etwas neurotischer Mann, der eine grosse Familie hat, Antiquitäten sammelt, an seinem Auto hängt, viel raucht, sich zwei Kühe hält und am Ende stirbt. Geschildert werden die letzten 20 Monate von Horacios Leben, zu dem die trivialen Unterhaltungen und Vorkommnisse des Alltags ebenso gehören wie Krankheiten und Unglücksfälle in der Familie.
Eine einfache, unspektakuläre Geschichte, die dadurch zum Meisterwerk wird, dass der Autor eine eigene Sprache gefunden hat, mit der er den Leser, die Leserin fern von den „Markenzeichen“ der kolumbianischen Literatur – dem magischen Realismus, dem miserabilismo, dem Auswalzen der Gewalt – empathisch und kompetent an seine Figuren heranführt und diese lebendig, verständlich, einmalig macht. Dabei entsteht das Porträt einer kleinbürgerlichen Familie, deren Mitglieder sehr aufeinander bezogen sind und sich unentwegt besuchen – und trotzdem einsame Menschen bleiben.

Die Hauptpersonen des Romans, die ausführlich dargestellt werden, sind neben Horacio seine Brüder Elias (ein Schriftsteller) und Alvaro (Inhaber eines Lotteriebüros) sowie ihr Schwager, der Arzt Eladio. An Horacios Seite erleben wir seine Frau Margarita und seinen Sohn Jeronimo. Aber auch sekundäre Figuren – das Hausmädchen Carlina, der Bauer Pacho, Margaritas Schwester Martica, Elias‘ Frau Beatriz, der Schieber Carenalga, der Richter Ariel, Eladios Patienten – werden mit knappen, sicheren Strichen einprägsam gezeichnet. Eine besondere Rolle spielen die von Horacio liebevoll umsorgten Kühe: In einem Buch, in dem der Tod von Anfang an präsent ist, sind diese sich ständig reproduzierenden Tiere das Symbol des Lebens.

Der Roman ist in Envigado angesiedelt, einem kleinen Ort an der Peripherie von Medellin, in den Jahren 1960/61, das heisst, an einer Zeitenwende: Es ist die Zeit der zunehmenden Industrialisierung, der beginnenden Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts, der einsetzenden Emanzipation der Frau in Kolumbien. Es ist auch die Zeit des „Atemholens“ zwischen der politischen Violencia (1948-53) und der bevorstehenden Zerrüttung des Landes durch Guerrilla, Paramilitärs und narcotrafico. Um das Problem seines Landes zu charakterisieren, genügen dem Autor ein paar treffende Zeilen über die Untaten und das Ende einer Bande von Viehdieben, über den Verletzten aus der Bar von A-oranzas oder über die Bolivar-Statuen in den Parkanlagen. Einen Sterbenden aber in seinem letzten Jahr zu begleiten – das ist ein Thema, mit dem Tomas Gonzalez die Grenzen Kolumbiens überschreitet und in die Weltliteratur vordringt.

Herausgegeben mit Unterstützung von Litprom, Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika

Rezensionen

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Grausames, schönes Leben

Corina Lanfranchi / Programmzeitung / 5/2005

Ein anderes Kolumbien präsentiert der 1950 ebenfalls in Medellin geborene Tomas Gonzales, studierter Philosoph, in seinem Roman "Horacios Geschichte". Im Zentrum steht wiederum eine Grossfamilie, Zeit: Anfang der Sechzigerjahre. Geldmangel, Diebesbanden und raue Sitten prägen die Gegenwart. Mit Kolumbien, so sagt es Horacios Schriftsteller-Bruder, geht es seit Bolivars Tod abwärts. Horacio selbst ist ein etwas verschrobener Mittvierziger, der Antiquitäten hortet, zwei Kühe hält, fünf Töchter und einen lümmelhaften Sohn hat und seine Frau noch immer liebt. Geschildert werden die letzten Monate seines unspektakulären Lebens; es wird geliebt, gelacht und gestritten, doch anders als bei Anjel ist es ein Lieben, Streiten und Lachen, das sich mit den Realitäten und Banalitäten des Alltags verbindet: Da ist der Geruch der klein gehäckselten Bananenstrünke, die verbotene Zigarette des herzkranken Horacio auf der Toilette, da sind trächtige Kühe, Hitze und Schweiss. Und da ist schliesslich, unaufdringlich, aber stets präsent, der Tod - als ein Teil des Lebens.

Mit viel Wärme lässt Gonzales seinen Erzähler von diesem Dasein berichten; es ist der Blick eines Mannes auf das Leben (vor allem) von Männern. Mit Horacios nahendem Tod konzentriert sich der Erzähler zunehmend auf den Sterbenden, zeichnet ein ergreifendes Abschiedsszenario - unsentimental und deshalb umso berührender. Zwischen Todesträumen und Momenten des Wachseins wird Horacio von der allerletzten Gewissheit getragen: dass das Leben so grausam wie auch gut ist. "Im Sonnenlicht schwirrten die Libellen über einem See. Wieder knurrte der Hund. Schade, dachte Horacio. Wie schön das ist, schade, verdammt noch mal."

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Idylle unter Zeitdruck

Kersten Knipp / Frankfurter Allgemeine Zeitung / 11.6.05

Vor dem Bürgerkrieg: Tomas Gonzalez schildert Kolumbien

Das Glück liegt in den Gräsern. Fette Halme, ein gut gefüllter Wassertrog, die Welt ist Weide und endet an der Koppel. Liegt, muss man ob solchen Sanftmuts fragen, das Unglück der Menschen nicht darin, dass sie nicht wie ihr Rindvieh sind?

Tomas Gonzalez würde die Frage wohl bejahen. "Horacios Geschichte" heisst sein im kolumbianischen Original bereits im Jahr 2000 erschienener Roman, der Ochs und Kuh zwar nicht die zentralen Rollen zugedacht hat, ihren begnadeten Gleichmut aber als Form des Daseins inszeniert, die er, könnte er, wie er wollte, gern auch den menschlichen Protagonisten des Buches zugestände. Kann er aber nicht, denn vor allen Frieden hat sich in Kolumbien die Gewalt geschoben. Es ist darum ein doppelt schlechtes Zeichen, dass diese Gewalt als allererstes auf die Rindviecher niederfährt. Denn Viehdiebe sind unterwegs, keine gewöhnlichen, sondern solche, die auch das grosse Schlachten nicht scheuen: Deportiert wird zunächst einmal die ganze Herde. Doch weil die für den weiteren Transport zu gross ist, wird der Überschuss schlicht abgestochen. Wer aber vor Tieren keine Achtung hat, der hat sie auch vor Menschen nicht. Der Autor schreibt das Jahr 1960, Kolumbien ist dabei, aus dem Zustand brüchigen Friedens in das Bürgerkriegschaos von Mord und Totschlag zu kippen.

Noch aber ist es nicht soweit, noch hat sich die Gewalt als Norm nicht durchgesetzt. Statt dessen holt das Unglück die Protagonisten im Privaten ein. Eine der Figuren stürzt vom Pferd und bricht sich einen Halswirbel; eine andere stirbt an Leukämie; eine weitere ertrinkt im Meer; und Horacio, der Held des Romans, wird seinen dritten Herzinfarkt nicht überleben. Herbe Schläge prasseln auf Horacio und seine Familie nieder; dass sie trotzdem einigermassen erträglich sind, liegt daran, dass das Schicksal sie schickt; jedenfalls sind sie nicht von Menschen gemacht. Wozu die wiederum es bringen, steht in jenen Tagen in der Zeitung zu lesen. Regierungstruppen "hatten kleine Kinder in die Luft geworfen und mit ihren Bajonetten aufgefangen, schwangeren Frauen den Bauch aufgeschlitzt, Anhänger der Liberalen gepfählt".

Solche Taten geben den Auftakt zu einem Drama, dem sich auch die kolumbianische Literatur nicht entziehen kann. Die Autoren sind herausgefordert; sie müssen auf die Schrecken reagieren. Die Frage ist nur, wie. Fernando Vallejo und der eine Generation jüngere Jorge Franco, zwei der bekanntesten Schriftsteller des Landes, bezeugen die Gewalt in ihren Büchern nicht nur, sie wollen sie überbieten. Drastisch und mit viel Sinn fürs Grobe suchen sie die Wirklichkeit zwischen zwei Buchdeckel zu pressen, ringen um eine Sprache, neben der die reale Gewalt blass aussehen möge. Das kann nicht gelingen - die Schlagkraft des Stils ist schnell erschöpft, denn über den immer gleichen brachialen Sprachschatz kommt sie nicht hinaus. Haften bleibt wenig mehr als ein Gefühl des Unbehagens, gegründet weniger auf Entsetzen als auf Überdruss am ausgespienen Wort.

Tomas Gonzalez weiss um die Schwächen des aggressiven Stils. Darum verwendet er ihn selten, präsentiert ihn indirekt, gefiltert etwa durch Zeitungsmeldungen. Da mag ein Wille zu Verdrängung am Werk sein, vielleicht aber auch schlicht der Drang zu nationaler Imagepflege: Gut anderthalb Jahrzehnte hat der 1950 geborene Gonzales in New York gelebt, ist also hinlänglich darüber im Bilde, was man im Ausland über seine lateinamerikanische Heimat weiss, jedenfalls zu wissen glaubt.

Gonzalez' Kollegen Alvaro Escobar-Molina hat es zuletzt getan, in seinem wunderbaren Roman "Der schlafende Berg". Wie Gonzalez ist auch er ein Exilant, und wie sein Mitstreiter hat auch er die Handlung seines Buches in die frühen vierziger Jahre gelegt, die Zeit weit vor dem nationalen Desaster, das mit der Ermordung des Politikers Jorge Eliecer Gaitan seinen Anfang nahm. Ein wunderbar anmutiges Erinnerungsbuch ist darüber entstanden, ohne Scheu vor aller Poesie.

Ganz so still kann Tomas Gonzalez die Szenerie schon nicht mehr halten. Er gewährt der Idylle eine letzte Gnadenfrist, doch ist es allen in ihr angesichts des annahenden Desasters spürbar mulmig zumute. Die Liebe des Schriftstellers zum Wort, die der Frauen zur Kosmetik, der Lausbuben zu dummen Streichen - Wert und Würde bezieht dieses harmlose Familieneinerlei aus dem Unstand, dass es bald nicht mehr so sein wird. Die Zeit drängt, und darum fasert die Geschichte trotz aller süssen Nichtigkeiten an den Rändern nicht auseinander. "Wie schön das ist, schade, verdammt noch mal", flucht Horacio zum Abschied, vom Tod schon in den Arm genommen. Ja, das Leben war mal schön in Kolumbien. So schön offenbar, dass man kaum weiss, ob Gonzalez am Ende nicht doch ein Märchen erzählt hat.

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Vom Leben und Tod

Erich Hackl / Weltwoche / 21.7.05

Wie Tomas Gonzalez mit "Horacios Geschichte" einem ganzen Land gerecht wird

In Kolumbien werde zu leicht gestorben, schreibt Peter Schultze-Kraft, einer der besten Kenner und Vermittler lateinamerikanischer Literatur. "So leicht und schnell, daß der Sterbende und die Zeugen des Todes oft gar nicht richtig mitbekommen, was das Sterben ist." In Kolumbien wird auch zu leicht, ja leichtfertig über Sterben geschrieben, in Zusammenhang mit den Attentaten der Drogenbanden, paramilitärischen Schwadronen, Guerrillaeinheiten und Sonderkommandos von Polizei und Militär. Denn die zeitgenössischen Schriftsteller des Landes thematisieren die soziale und kriminelle Gewalt zwar ausführlich, neigen aber dazu, sie durch die krude Art der Darstellung zu sanktionieren. Schultze-Kraft bringt eine Reihe von Beispielen, unter ihnen zwei Romane, die weltweit einige Beachtung gefunden haben: Jorge Francos "Die Scherenfrau" und Fernando Vallejos "Der Abgrund".

Vallejo ist ein Extremfall, ein Propagandist der Päderastie, der seinen Haß auf die eigene Familie, schwangere Frauen, Mütter, homosexuelle Partnerschaften, Arme, Aufständische, Priester und Politiker jedes Couleurs in eifernde Traktate gießt, die dann sicherheitshalber die Gattungsbezeichnung "Roman" tragen. Mit Kolumbien hat er schon vor zehn Jahren abgerechnet, im ersten Satz von "Chapolas negras", einer Biografie seines dichtenden Landsmannes José Asunción Silva, der Ende des 19. Jahrhunderts an der Ignoranz der besseren Kreise Bogotás zerbrochen war: Colombia no tiene perdón ni tiene redención - "Kolumbien findet weder Vergebung noch Erlösung". Ein solches Pauschalurteil würde Franco vermutlich nicht fällen. Er nimmt sich immerhin die Mühe zu gestalten, was Vallejo nur umschweifend anprangert, die Spirale der Gewalt, die alle zwischenmenschlichen Beziehungen durchdringt und zerstört. Das Erschrecken überläßt er den Lesern. Was aber, wenn diese gar nicht zusammenzucken, sondern sich in ihrer Resignation bestätigt fühlen und Mord, Entführung und Folter als nationale Spitzenleistungen auffassen?

Es gibt eine Gegenströmung zu dieser Art von Literatur, deren Naturalismus dem ehrenhaften, großherzigen Kolumbien, das sich wider alle Anschläge und Massaker behauptet, keinen Platz läßt. Schultze-Kraft hat als Übersetzer kürzlich zwei Romane auf deutsch herausgebracht, die eine andere Sichtweise des Vexierbildes anbieten: "Das meschuggene Jahr" von Memo Ánjel und "Horacios Geschichte" von Tomás González. Beide Autoren stammen, wie auch Vallejo und Franco, aus Medellín, das gemeinhin als Welthauptstadt des Verbrechens gilt. Bei Ánjel kommt kriminelle Gewalt überhaupt nicht, bei González nur am Rande vor. Allerdings spielt "Das meschuggene Jahr" Mitte der fünfziger, "Horacios Geschichte" Anfang der sechziger Jahre. Es ließe sich also behaupten, daß diese Romane nur historisches Interesse verdienten. Außerdem ist der gewählte Ausschnitt denkbar eng, ein Haus, ein paar Straßen, eine Kuhweide, was außerhalb liegt, wird nur indirekt, in seinen Auswirkungen erkennbar.

Über den Hass

Tomás González ist Jahrgang 1950, er hat "Horacios Geschichte" zwischen 1993 und 1998 in New York geschrieben, wo er als Übersetzer tätig war, die Originalausgabe erschien vor fünf Jahren in Kolumbien. Die Idee zu diesem Roman kam ihm, als er einen Dokumentarfilm über eine exzentrische Familie irgendwo in Connecticut sah. Unter den vielen Geschwistern war einer, den jede Kleinigkeit - ein Reifenplatzer, ein schiefer Blick oder das Lächeln einer Verkäuferin - so sehr mitnahm, daß er sich hinsetzen oder eine Weile niederlegen mußte, um den Sturm der Gefühle abflauen zu lassen. Dieser Mann erinnerte González an seinen Onkel Jorge, der immer sehr nervös war und früh starb. "Und da dachte ich, ich könnte die Geschichte von jemandem schreiben, der allzu sensibel ist, den Schönheit und Schrecken der Welt sehr schnell aufzehren. Das ist ´Horacios Geschichte´. Mit ihr machte ich mir selbst ein Geschenk: Ich versenkte mich in die Atmosphäre meiner Familie in Envigado, einem Vorort von Medellín, in den sechziger Jahren. Dabei hatte ich streckenweise das Gefühl, in die Vergangenheit einzutauchen, wie mit einer Zeitmaschine, und langsam, mit genauem Blick, die Beschaffenheit der Dinge damals zu betrachten."

Selten hat sich jemand in der Darstellung des "natürlichen Sterbens" so weit vorgewagt die dieser Autor. Aber der Roman ist keineswegs nostalgisch. Die erzählte Zeit erweist sich als durchaus vergleichbar mit heutigen Verhältnissen, jedenfalls in ihren negativen Erscheinungsformen wie Viehraub, Korruption, Armut und Hilflosigkeit der Bedürftigen. Auch den einigermaßen überlebensfähigen Mittelstand gibt es heute noch, er steht - vertreten durch Horacio und seine Sippe - im Zentrum des Romans: drei Brüder mit ihren jeweiligen Familien, Frauen, Kindern und Freunden. Horacio sammelt Antiquitäten, weigert sich aber, sie wieder zu veräußern, weshalb er sich Geld bei seinen Brüdern borgen muß, doch im Grunde ist es seine Frau Margarita, die mit ihrem Sinn für die praktischen Dinge des Lebens die Familie über Wasser hält. Es gibt Zusammenhalt und Vertrauen, das macht der Roman ganz unaufdringlich deutlich, und Horacio ist der größte Nutznießer dieser Tugenden. Aber er ist auch auf eine eigentümliche Art hoffnungslos (wenngleich voll Illusionen), macht die richtigen Dinge zur falschen Zeit (oder umgekehrt), schafft es nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen - selbst dann nicht, als er die ersten Herzattacken erleidet und ahnt, daß seine Zeit begrenzt ist. "Mensch, Horacio, laß dich nicht klein kriegen", sagt sein Bruder Elías zu ihm, ein Schriftsteller. "Wenn du alles bewußt erlebst, wirst du feststellen, daß es keine ausweglosen Situationen gibt." Nur, wie gelingt es einem, alles bewußt zu erleben? Noch im Moment des Sterbens, nach dem dritten Infarkt, nimmt Horacio das Leben als Verheißung, nicht als Erfüllung wahr. "Im Sonnenlicht schwirrten Libellen über einem See. Wieder knurrte der Hund. Schade, dachte Horacio. Wie schön das ist, verdammt nochmal."

Den Kontrapunkt zum vergehenden Leben setzt das entstehende, wachsende Leben im Bauch der beiden Kühe, die Horacio wie seinen Augapfel hütet. Eines der Kälber stirbt bei der Geburt, aber die Kuh wird von neuem gedeckt, und nach einem Monat schwimmt wieder ein Kalb "noch haarlos im Fruchtwasser". So hält der Erzähler, einmal ganz nah an seinem Protagonisten und an den anderen Romanfiguren, dann wieder mit einem wissenschaftlichen, beinahe unbeteiligten Röntgenblick ausgestattet, die Geschichte in Schwebe. Die vielen inhaltlichen Komponenten - Horacios Unvermögen, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, seine zwischen Bewunderung und Verlangen schwankenden Empfindungen für Margarita, die rätselhafte Freundschaft zwischen seinem rotzigen Sohn Jerónimo und dem ungemein höflichen David, die Treue der Brüder zueinander, ihre Mischung aus Hellsicht und Unvernunft, der ewig kläffende, an gewaltiger Selbstüberschätzung krankende Familienköter, die betuchten Frauen aus der Umgebung, die kichernd und schnatternd Margaritas Schmuggelgut aus Miami (Hautcremen, Haushaltsgeräte, Dessous) testen - hätten andere Autoren zur Groteske und damit zur Eindeutigkeit verführt. Aber Tomás González gleitet nie ins Komische, Karikaturhafte oder Tragische ab. Alles ist bedeutsam - und nichts banal.

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Mit den Augen der Unschuld

Ulrike Frenkel / Stuttgarter Zeitung / 22.7.05

Tomás González erzählt von Horacios langsamem Sterben

Wenn es denn statthaft wäre, ein Land durch eine Stelle in seiner Literatur zu charakterisieren, schreibt der Übersetzer Peter Schultze-Kraft, dann stehe der kolumbianischste Satz in Tomás González' Roman "Horacios Geschichte": "In einer stinkigen Bar, bei schmalziger Tango-Musik, saß der Verletzte und blutete und trank Bier." Bestimmender für das Buch selbst ist jedoch ein anderer Satz: "Er war dem Tod schon nahe, wusste es aber noch nicht." Der Erzähler aber weiß es schon und schildert die verbleibende Zeit des etwas eigenbrötlerischen Familienvaters, Antiquitätensammlers und Tierliebhabers Horacio als Abfolge letzter Köstlichkeiten und letzter Grausamkeiten.

Die Treffen mit den Brüdern, eine kalbende Kuh, Regen auf den Orangenbäumen, seine Frau, die er immer noch begehrt, das Ertrinken des Schwagers, der flegelhafte Sohn, die marodierenden Banden jenseits der Gartentür, eine verbotene Zigarette, das immer schwächer werdende Herz - es ist eine manchmal nüchterne, manchmal schwebende Perspektive, aus der die kleine Welt am Rande der Großstadt Medellín beschrieben wird. Dort ist Anfang der sechziger Jahre die größte politische Gewalt gerade vorbei, und die Zerrüttung des Landes durch Guerilla, paramilitärische Vereinigungen und Drogenhandel steht bevor. Im Vordergrund aber steht ein persönliches Drama, eine detailgeladene Biografie, ein lateinamerikanisches Familienbild. Vieles daran ist alltäglich, nichts ist oberflächlich. Denn Tomás González gelingt es, wissend mit den Augen der Unschuld zu sehen, wie er es im Roman Horacios Bruder Elías zuschreibt. "Er hatte vom Baum der Erkenntnis gegessen, die Früchte wieder ausgespien und war nun ins irdische Paradies zurückgekehrt."

Drei Übersetzer haben in liebevoller Zusammenarbeit für seine kraftvolle, bildreiche Sprache einen angemessenen deutschen Ton gefunden, der González' Eigenheit deutlich werden lässt. Denn ganz ausdrücklich will sich der 1950 Geborene nicht an den aktuellen literarischen Moden seines Heimatlandes orientieren, dem miserabilisimo, der vordergründigen Schilderung des sozialen Elends, der exzessiven Gewaltdarstellungen, sondern sucht mit seinem sinnlichen, humorvollen, aber betont realistischen Erzählstil einen anderen Weg aus dem Schatten des magischen Realismus seines großen Landsmannes Gabriel García Márquez. Nahe bleibt er dem mehr als achtzigjährigen Kollegen dabei in seinem Plädoyer für Liebe, Solidarität, Menschlichkeit, mit dem er einen Ausweg aus der gewaltgeladenen Situation Kolumbiens herbeizuerzählen sucht.

"Horacios Geschichte" ist ein Roman vom Sterben und eine Hymne an das Leben, und der letzte Gedanke des Verscheidenden liest sich wie eine Aufforderung an die Zurückbleibenden, drastisch, schmerzlich, wunderbar - wie der ganze Roman: "Wie schön das ist, schade, verdammt nochmal."

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Lebenstrunkene Reise in den Tod

Roland Maurer / Der kleine Bund / 6.8.05

«Horacios Geschichte» des Kolumbianers Tomás González ist ein vergnüglich-bitteres Buch über das Leben und das Sterben.

Mitten im Leben steht Horacio unter der Dusche und schweift beim dreimaligen Einseifen trübselig ab. Wenn er dann mal tot sei, grübelt er, sollen seine Leiche keinesfalls «zwei warme Brüder mit Krawatte und Gummihandschuhen waschen, sondern meine Frau und meine Töchter». Dass er nur eines dieser elenden Menschenwesen sein soll, die zwar hübsch auf die Welt kommen, sie aber hässlich verlassen, bringt Horacio fast um den Verstand. Auch sein Körper wird einmal voller «Muttermale sein, die wie zusammengerollte Würmer aussehen, das Geschlecht, einst eine Rosenknospe, nur noch eine von Adern überzogene Wurst, an der zwei haarige Avocados runterhängen», und beim Griff nach der Sauerstoffmaske wird er elendiglich röcheln.

Üble Aussichten! Dabei lebt der passionierte Antiquitätensammler Horacio ganz gut in seinem Haus in der Nähe von Medellín, das eingerichtet ist mit Himmelbetten und Kristallleuchtern. Im Garten steht sein heiss geliebter VW, und die Orangenbäume duften fein. Horacio ist Kettenraucher und Besitzer zweier Kühe, die für ihn wie Lebenselixiere sind. Und er ist umgeben von neun Frauen – Ehefrau, Töchter und Schwägerinnen –, die sich tagelang damit amüsieren, die edlen Kosmetika auszuprobieren, die sie in Miami eingekauft haben.

Der einzige Mann, der Horacio zur Seite steht, ist sein Sohn Jerónimo, ein Krawallflegel, dessen rüde Verbalattacken gegen die Frauenkränzchen der Vater insgeheim bewundert. Andere Männer kommen zu Besuch: Seine Brüder Elias, ein schlecht schreibender Schriftsteller und Alvaro, der ein Lotteriebüro betreibt; oder der Arzt Eladio, dessen Fähigkeit, unzählige Patienten gleichzeitig zu «behandeln», phänomenal ist und der auch Horacio in den Tod begleitet. Denn sein Lebenswandel wird ihn im Verlauf des Buches dahinraffen, obwohl er das bis fast am Schluss nicht wirklich weiss.

Mit «Horacios Geschichte» hat der 55-jährige Tomás González ein turbulentes, grotesk-komisches Memento mori geschrieben. Er schildert das Leben in und um Horacios’ Haus prall und farbig, lässt aber auch den Sensenmann stets dabei sein: Ein Kalb stirbt bei der Geburt, die Zeitung berichtet von Mord und Totschlag in Kolumbien, Viehdiebe treiben ihr Unwesen, die Polizei ruiniert Horacios VW. Und der trotz allem Trubel einsame Mann kriegt immer weniger Luft, hat mehrere Herzinfarkte und verlässt diese Welt schliesslich mit einem «empörten Stöhnen» und den Worten: «Wie schön das ist, schade verdammt noch mal.»

Tomás Gonzáles schreibt rasant, expressiv, schrill, gelegentlich politisch ganz schön unkorrekt und rotzfrech. Mit lauten Tönen und in kontrastreichen Szenen zieht er alle Register, um mit wenigen Strichen Figuren und Situationen in sinnlicher Unmittelbarkeit vorzuführen. In filmschnittartigen Szenenwechseln entwirft er krasse und grelle Bilder, um bald wieder einen feinen Hauch von Traurigkeit über dem Geschehen wehen zu lassen. Ein äusserst vergnügliches Buch, das gleichzeitig aber durch die leitmotivische Präsenz des Todes in diesem verrückten Leben auch melancholische Züge hat.

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Vom Leben und vom Sterben

Valentin Schönherr / WOZ / 18.8.05

(...)

Alltag und Abschied

Die interessantesten Romane kommen jedoch von zwei Autoren, denen bislang grössere Beachtung versagt geblieben ist. Und auch sie haben etwas gemein: José Guillermo (Memo) Anjel und Tomás González erzählen vom Kolumbien der fünfziger und sechziger Jahre, als die violencia noch längst nicht ihr heutiges, allgegenwärtiges Ausmass erreicht hatte. Memo Anjels Roman "Das meschuggene Jahr" handelt von einer jüdischen Familie in Medellín, die ganz in ihren Alltagsgeschäften aufgeht. Ein leicht verrückter Vater (Anjel legt mit dieser Figur seinem eigenen, früh verstorbenen Vater einen Stein aufs Grab) verausgabt sich an merkwürdigen technischen Erfindungen wie einer Brotbackmaschine, die Mutter verhindert, dass das Chaos über die Sippe hereinbricht, und alle gemeinsam erfüllen sie sich auf ihre Weise den traditionellen Pessach-Wunsch der Juden: eine Reise nach Jerusalem. Erzählt in einem warmherzigen, geradezu arglosen Ton, fehlen in "Das meschuggene Jahr" alle Anklänge an die die violencia, die auch damals schon eine lange, wenn auch sporadischere und begrenzte Geschichte hatte. Memo Anjel hat, als er sein Buch im Mai in Zürich vorstellte (siehe Interview WOZ Nr. 19/05), dies als eine ganz bewusste Entscheidung erklärt: Er wolle sich an einer "morbiden" Literatur nicht beteiligen, die die alltagsbestimmende Angst der Leserinnen und Leser vor Gewalt dazu missbraucht, Spannung zu erzeugen. Positiv gewendet hiesse das: Hier schreibt einer abseits der Erwartungen und Gewohnheiten, aber mit dem Wunsch, erzählend vor dem Vergessen zu retten, was noch nicht verloren ist.

So unverschämt freundlich das "Meschuggene Jahr" ausgeht, so tödlich endet "Horacios Geschichte" von Tomás González: Horacio stirbt, er tut das eigentlich das ganze Buch hindurch. Also alles wie gehabt: Kolumbien heisst Gewalt, Entsetzen, Tod? Nein, Tomás González erzählt die Geschichte eines Sterbens - wohl auch im bewussten Kontrast zur Gewaltliteratur seiner Kollegen - als den genau beobachteten Abschied eines Menschen vom Leben, das er heiss geliebt und liebevoll geführt hat. Horacio ist Rinderzüchter und Antiquitätenhändler in der Provinz. Mit seinen Kindern, seiner Frau, seinen Brüdern spricht, scherzt, leidet er, er lebt eigensinnig, anders als die Ärzte ihm empfehlen, mit albernen Vorlieben und grosser Aufmerksamkeit für die Details seiner Umgebung. All das wäre nicht weiter bedeutsam, wenn es nicht so ausgesprochen stimmig und klug erzählt und ganz unabhängig von allem Kontext einfach eine gute Geschichte wäre, vor allem aber, wenn es sich nicht von den bekannten Bildern über Kolumbien so krass unterscheiden würde. Kann man in einem Land, in dem die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat, einer Entführung zu werden, so hoch ist wie sonst kaum irgendwo auf der Welt, noch von einem Leben erzählen, dessen Tod mehr wert ist als eine kurze Zeitungsnotiz? Man kann, sagt González.

Interessanterweise spielt auch sein Roman in der Vergangenheit: Horacio muss 1960 noch nicht befürchten, dass sein Dorf von Paramilitärs oder Guerilleros überfallen wird. Die Gewalt im Lande spielt durchaus in Horacios Geschichte hinein, durch Radiomeldungen etwa. Einmal werden ihm sogar zwei Kühe von der Weide gestohlen, die Diebesbande wird später von der Polizei erschossen. Aber das ist damals noch ein aufsehenerregendes Ereignis, von dem Horacio Nacht für Nacht träumen wird. Wie aber würde er vierzig Jahre später auf den Vorfall reagieren?

Dass unter den erwähnten sechs Büchern kein qualitätsvoller Gegenwartsroman ist, mag man als Lücke bemängeln. Dabei sollte nicht übersehen werden: Uns erreicht nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was im Buchland Kolumbien jährlich erscheint. Von Laura Restrepo, der Alfaguara-Preisträgerin des Jahres 2004 (für "Delirio") und von Héctor Abad Faciolince sind bereits Bücher auf Deutsch erschienen und weitere zu erwarten. Andere - Pedro Badrán, Saúl Álvarez, Darío Jaramillo Agudelo - warten noch auf ihre Entdeckung. Aber die unterhaltsamen Neuerscheinungen von Jorge Franco und Santiago Gamboa selbst sprechen ebenso für eine lebendige Buchkultur wie die anspruchsvolleren Romane von Memo Anjel und Tomás González. Diese verweisen, indem sie das Gewaltthema zur Leerstelle machen, umso eindringlicher auf Übersehenes, Bedrohtes und Verlorenes.

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Tau auf den Orangenblüten

Uwe Stolzmann / NZZ / 21.9.05

Der Kolumbianer Tomás González erzählt «Horacios Geschichte»

Ganz langsam wird gestorben in diesem Roman – so langsam und sanft, als käme das Buch nicht aus Kolumbien. Ort der Handlung: ein Städtchen bei Medellín, ein Haus in Randlage, ruhig und ländlich. Die Zeit: ein paar Monate der Jahre 1960/61; eine Spanne brüchigen Friedens zwischen einem Bürgerkrieg («Violencia») mit 200 000 Toten und der nächsten Schreckensherrschaft von Killertrupps jeder Couleur. Medellín, die spätere Drogenhochburg, gilt noch nicht als «Welthauptstadt» des Verbrechens.

Der Protagonist dieses Buches, Horacio, ist ein nervöser Mittfünfziger mit arglosem Herzen und harmlosen Marotten. Er liebt seine Familie – die beiden lebensklugen Brüder, die Frau, sechs Töchter, den frechen Sohn –, doch vor allem liebt er dreierlei: Antiquitäten (die er bei Bauern und Priestern kauft, um sie, in Kisten verpackt, in der Garage zu verstecken), einen VW-Käfer (schwarz, nach Neuwagen duftend, vermutlich gestohlen) und zwei kleine Kühe. Horacio versorgt die Kühe – Symbole der Fruchtbarkeit, der puren Lebensfreude – mit grosser Zärtlichkeit. Doch er raucht zu viel, wenn er an der Weide steht. Sein weites, aber schwaches Herz wird ihn bald umbringen. Der Autor weiss es, der Leser weiss es, und dieses Wissen um die Zerbrechlichkeit, die doppelte Gefährdung von Horacios kleiner Welt, lässt ihr Abbild im Buch so glänzen. Da steht das «Autochen», in dessen Scheiben sich die ersten Sonnenstrahlen spiegeln, da funkelt der Tau auf den Orangenblüten, und Horacio denkt, als er geht: «Wie schön das ist, schade, verdammt nochmal.»

Autor Tomás González, 1950 in Medellín geboren, ist bei uns noch ein Unbekannter. Er studierte Philosophie, jobbte als Barkeeper und Velomechaniker, lebte lange als Übersetzer in New York und schrieb bisher vier Romane. In «Horacios Geschichte» (1998 vollendet) sagt eine seiner Figuren: «Wie schwer es doch war, eine Sprache zu finden, in der die Worte so natürlich wirkten wie das Moos auf den Steinen!» González, so scheint es, hat diese Sprache gefunden.